Der Zen-Zirkus, H. Platov, Zürich, 25. Nov. 1989
Der Zen-Zirkus – Bei der letzten Zusammenkunft im Zendo in Zürich, sprach Henry Platov in leicht sarkastischer Weise über die Tücken und Fallgruben des so genannten Zen-Trainings. Zu jener Zeit herrschte in den meisten westlichen Zen-Gruppen ein Regime, das, ungeachtet des kulturellen Hintergrundes, weitgehend von den traditionellen, japanischen Zen-Klöstern geprägt war. Er zeichnete das Bild eines Zirkus, mit all den dazugehörigen Akteuren und Requisiten. Er benutzte dieses Bild allerdings nur dazu, um seinen Zuhörern noch ein (letztes) Mal das grundlegende Prinzip der fundamentalen Leere und Ichlosigkeit – das Herz der Zen-Praxis – darzulegen.
Der Zirkus
Es gibt einen Zirkus, namens Zen, der alles hat, was ein Zirkus braucht. Da ist zuerst der Zirkusdirektor. Er steht, umgeben von den Zuschauern, in der Mitte der Arena und stellt die Zirkusartisten vor. Der Zirkusdirektor, der sogenannte Roshi, steht im Zentrum und überschaut das ganze Publikum.
Wie in jedem Zirkus gibt es Clowns. Die müssen auch da sein und mitspielen, ohne sie funktioniert ein Zirkus nicht. Sie bilden sich alles Mögliche ein, machen Sprüche und und reissen allerlei Possen.
Dann kommen die Pferde. Sie stolzieren herum und sind wunderbar dressiert – man staunt darüber, wie sie gehen, wie sie sich verbeugen. Das sind die sogenannten Zazenkai, die folgsamen und eifrigen Zen-Schüler im formalen Training. Man hat sie wunderschön angezogen und richtig gut geschult. Sie verbeugen sich formvollendet und führen allerhand Kunststücke vor.
Im Zirkus gibt es natürlich auch einige Raubtiere, grosse Raubkatzen. Der Dompteur bändigt diese Löwen, Panther und Tiger. Er lässt sie durch Feuerreifen springen und sie setzen sich artig hin. Der Dompteur ist natürlich der Jikijitsu, der Zendovorsteher mit seinem Stock (Kesaku). Der Zirkusdompteur hat die Peitsche und der Jikijitsu hat den Stock, und die abgerichteten Katzen machen, was er will.
Dann gibt es natürlich die Akrobaten, Trapezkünstler, Seiltänzer und so weiter. Diese Akrobaten kennt man ja. Man muss nur ins Innere eines solchen Menschen schauen und kann sehen, dass er ein Akrobat ist: ein Gedankenakrobat, ein Gefühlsakrobat, ein Empfindungsakrobat. Da ist ein Getue und ein Gemache, aber die Zuschauer klatschen und finden es wunderbar – ist das nicht fabelhaft?
Auch die Requisiten fehlen nicht (H. Platov verweist auf die verschiedene Gegenstände im Zendo: das Lesepult, die Glocke, die Schale mit den Räucherstäbchen usw.)
Ernst oder nicht ernst?
Die In der Tat: Wenn man sich die trainierten Zen-Schüler anschaut, wie sie auftreten, sich umständlich hinsetzen und sich, wie in der Rinzai-Schule, sogar mit den Koans, diesen Problemstellungen, herumschlagen, hat man wirklich einen Zirkus vor sich, und es stellt sich nur die Frage: Ist es ein ernstzunehmender Zirkus oder nicht?
Das ist eine berechtigte Frage. Denn wenn man als Akteur mitten in diesem Zirkus steht, dann nimmt man sich natürlich sehr ernst: Ich «mache» Zen-Mediation. Ich suche die höchste Erkenntnis. Ich bin auf dem Weg zur Erleuchtung, zum Satori! Ich bin ein aus mir selbst heraus existierendes Wesen. Ich, ich, ich!!! Das ist doch eine furchtbar ernste Angelegenheit!
Das Lachen von Hotei
Wenn man aber einmal in einen echten, stillen Meditationszustand kommt und sich selber sieht mit diesem «Ich-bin-auf dem Wege-zur Erkenntnis-aus-mir selbst-heraus»-Dünkel, steigt auf einmal ein grosses Lachen in einem auf; und dieses Lachen kommt tief aus dem Bauch heraus. Man sieht, wie absurd dieses illusorische Denken und Verhalten ist.
Das Lachen gibt es wirklich. Darum erzählt man ja auch die Geschichte vom Zen-Meister Hotei aus dem alten China. Er lebte in einem Dorf und war bekannt, als einer, der grosse Erkenntnis hatte. Die Leute suchten bei ihm Rat und stellten viele Fragen: Was ist denn die wirkliche Wahrheit? Was ist Karma? Was ist Wiedergeburt? usw. Diese Fragen der Dorfbewohner standen gewöhnlich im Zusammenhang mit den drei in China verbreiteten Religionen – Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus.
Hotei trug keine grossartigen Kleider, er sah aus wie ein gewöhnlicher Dorfbewohner. Er trug immer einen kleinen Sack mit sich.Und auf jede Frage, die ihm gestellt wurde, lachte er «Hohohohohoho!» und sagte: «Gib mir einen Pfennig.» Gab man ihm einen Pfennig, steckte er ihn in den Sack zu den anderen Pfennigen. Diese verschenkte er dann an Kinder und Bedürftige. Jedesmal: «Was ist Karma?» «Hohohohohoho!» «Was ist Erleuchtung?» «Hohohohohoho!» «Gibt es so etwas wie Reinkarnation?» «Hohohohohoho!», und auf jede Frage: «Gib mir einen Pfennig!»
Das Bild vom dickbäuchigen Hotei mit dem Sack über den Schultern ist in China und Japan sehr bekannt und allgegenwärtig.
Man muss diesen Hotei verstehen – was ist dieses Lachen aus dem tiefen Bauch? Es ist ein sehr befreiendes Lachen, und es ist vollkommen frei. Wer so lacht, hat sich von allem entledigt, von allem Gedankenmaterial und allen Bindungen; das Bewusstsein ist vollkommen frei.
Die Frage bleibt
Um auf den Zirkus zurückzukommen: Man kann diesen Zirkus sehr ernst nehmen und sagen, es sei gar kein Zirkus. Oder man sagt: «Ein Zirkus ist eine vergnügliche Sache und überhaupt nicht ernst zu nehmen.»
Die Frage ist also die: Soll man sich in seinem Tun und Lassen, in seinem Herumstolzieren usw. ernst nehmen oder soll man sich nicht ernst nehmen? Ist es ein ernstzunehmenden Spiel oder ist es einfach das, was es ist? Wie stellt man sich dazu?
Wenn ich die Frage an Euch richten würde: Ist dieses Zen und alles was damit zusammenhängt, ernst zu nehmen oder nicht? Wie würdet ihr antworten?
Vielleicht hat noch keiner daran gedacht, dass diese Aufführung sozusagen ein Zirkus ist. Vielleicht ist man schockiert, dass da einer kommt und die Frage stellt: Ist das, was man im Zen macht, ernst zu nehmen oder ist es nicht ernst zu nehmen? Ist man beleidigt, wenn jemand sagt, dieses Zen-Getue sei ein Zirkus? Ist es schlimm, so eine seriöse Sache einen Zirkus zu nennen?
Gibt es Gedanken wie: Ja was hältst du denn von mir? Du nennst mich ein stolzierendes Pferd, einen trainierten Löwen, einen Gaukler oder einen Clown, einen Seiltänzer usw.? Das ist doch eine Beleidigung!
Die Frage bleibt: Wie stellt man sich zu seinem Tun? Nimmt man es ernst oder nicht ernst?
Wer nimmt was ernst?
Die eigentliche Frage aber ist die: Wer ist es, der im Zendo herumspielt wie ein Clown, der im Sanzenzimmer auf dem Seil tanzt, der da herumstolziert im Kinhin; wer ist das, der sich wie ein dressierter Löwe oder ein kleiner Pudel benimmt?
Ist diese Frage rein rhetorisch oder berechtigt? Was würdest du antworten?
Aber nein, ich will doch kein dressiertes Pferd sein, ich bin doch ein Mensch. Ich bin doch kein Löwe – obgleich ein Löwe zu sein nicht schlecht wäre, dann hätte ich ja eine Löwenkraft. Oder ich spiele einen eitlen Pudel, damit die Leute klatschen, wenn ich komme… Aber nein, ich bin doch ein Mensch. Ich soll ja zur Erkenntnis meines Selbst kommen! Ich muss das doch ernst nehmen!
Ich frage: Wer muss was ernst nehmen? – Naja, mein Gedankenleben mein Gefühlsleben, mein Tun und Lassen meine Erfahrungen meine Erlebnisse muss ich doch ernst nehmen, sie gestalten doch mein Ich.
Was steckt denn da in aller Wirklichkeit in diesen Löwen, Panthern, Pferden und Akrobaten? Was sind sie denn in aller Wirklichkeit?
In Wirklichkeit sind es Vorstellungen oder Aufführungen. Daher nenne ich es mit Absicht einen Zen-Zirkus.
Die ganze Welt ist eine Bühne
Letzten Endes ist es vielleicht doch so, wie Shakespeare sagte: «Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer blosse Spieler; sie treten auf und gehen wieder ab.» Das ist sogar sehr gut gesagt: Die Welt ist eine Bühne, und «die Bretter, die die Welt bedeuten», sind unsere eigenen Vorstellungen. Auf dieser Bühne spielt jeder eine Rolle, nur sollte man wissen, wer diese Rolle spielt.
Es kann eine Rolle in einer Komödie sein oder in einem Drama, aber auf jeden Fall sind wir alle bloss Schauspieler, die auf dieser Weltbühne eine Rolle spielen. Da stellt sich die Frage: Ist man mit dieser Rolle, die man spielt, identifiziert oder nicht?
Der Schauspieler weiss, dass er eine Rolle spielt, die das Drehbuch vorgibt: Ich habe diese Rolle zu spielen und ich werde versuchen, sie so gut wie möglich zu spielen. Ich gebe mir, während ich die Rolle spiele, diese Identität, aber ich weiss, dass ich das nicht wirklich bin, ich bin immer noch ich selbst. Aber solange ich die Rolle spiele, identifiziere ich mich vorübergehend damit.
Doch gewöhnlich ist das nicht der Fall. Man ist so mit der Rolle, die man spielt, identifiziert, dass man gar nicht weiss, dass es eine Rolle ist, – das ist mein Gedankenleben, mein Gefühlsleben, meine Empfindung, mein Körper, mein Dasein, meine Existenz, meine Arbeit und mein Tun.
Nein! – Die Identifikation mit der Rolle soll nur temporär sein! Was es auch sein mag, es ist nur eine Funktion. Aber wer ist es in Wirklichkeit, der diese Rolle spielt, der sich temporär mit dem identifiziert, was abläuft? Man ist sich seines sogenannten innersten Selbst gewöhnlich gar nicht gewahr.
Die Rollen
Wenn man eine Rolle spielt, soll man sie so gut spielen wie es nur geht, temporär, gemäss der Funktion. Der Familienvater z.B. kommt nach Hause und spielt seine Rolle als Familienmann. Mit seinen Kindern ist er Vater, seiner Frau gegenüber ist er natürlich der Ehemann, der Liebhaber usw. Also spielt er im Bett eine Rolle und am Familien-Esstisch spielt er eine andere Rolle. Auch an der Arbeit zuvor, hat er ein Rolle gespielt. Das sind alles Rollen und man soll sie gut spielen. Man kann sich temporär damit identifizieren; aber es bleibt immer die Frage: Wer ist es, der all diese Rollen spielt?
Ja, wer ist es denn, der im Zendo die Rolle des Jiki übernimmt? Wer ist es, der sitzt? Wer ist es, der sich mit einem Koan herumschlägt?
Wir sind alle verschieden: weiblich, männlich, jung, alt, schön, hässlich, dumm, klug. Das sind die äusseren Erscheinungsformen, aber da ist das, was den Formen zugrunde liegt – das Wirkliche, die wahrhaftige, tatsächliche Identität, das wirkliche Selbst, wenn man es so nennen kann.
Was ist es, das die Rollen spielt, das sich gewahr ist: Ich übernehme jetzt diese Rolle und spiele sie so gut, wie ich sie nur spielen kann, aber es ist nur eine Rolle? Was ist es? Was ist die wirkliche Identität?
Man kennt vielleicht einen guten Schauspieler vom Film oder vom Theater und begegnet ihm ausserhalb seines Berufs. Man hat eine Vorstellung von ihm, weil man ihn in seiner Theater-Rolle gesehen hat. Und nun begegnet man dem Menschen nicht als Schauspieler, sondern so, wie er eben ist. Das ist manchmal ein ganz interessanter Kontrast.
Weisst du, wer du bist?
Man könnte ihn fragen: «Wenn du eine Rolle spielst, dann weisst du, dass du eine Rolle spielst. Aber jetzt, wo du weisst, dass du keine Theater-Rolle spielst, weisst du, wer du bist?»
Wenn wir denken, dass wir nicht schauspielern, wissen wir dann, wer wir sind? Man meint, man wisse, wer man im gewöhnlichem Tun und Lassen ist, weiss aber nicht, dass man noch immer eine Rolle spielt, und zwar gemäss dem eigenen, inneren Drehbuch – den eigenen Vorstellungen, dem eigenen Gedankenleben, dem eigenen Gefühlsleben.
Halte inne! Erkenne, dass es ein Rollenspiel ist auf der Bühne des alltäglichen Lebens. Erkenne, wer es in Wirklichkeit ist, der diese Rolle spielt.
Die Masken
Die alten Griechen trugen in ihren Dramen eine Maske vor dem Gesicht und sprachen durch die Maske. Die Maske charakterisierte die Rolle. Jede Rolle hatte ihre eigene Maske. Die Griechen nannten das, was durch die Masken sprach, «Persona». Daraus entstand der Begriff der Persönlichkeit.
Unsere Persönlichkeit ist das, was sich den anderen gegenüber darstellt und was sich zeigt, wenn man in den Spiegel guckt und denkt: Das bin ich. Es ist unsere Maske, und hinter dieser Maske ist eben derjenige oder dasjenige, das die Rolle spielt.
In der Übung der Zen-Meditation – und es ist eine Übung – versucht man, das zu erkennen, das durch diese Maske spricht, das die Gedanken, die Taten usw. ausführt. Man versucht zu erkennen, dass im Aussen alles eine Maskierung, eine Rolle ist. Um zu seinem nackten, wahrhaftigen Selbst zu kommen, muss man jede Maske, jede Bekleidungen, jede Rolle, die man hat, weglegen. Nur so findet man die Wirklichkeit, die nicht identisch ist mit der Persönlichkeit.
In Wirklichkeit hat jeder mehr oder weniger Angst, an die vollkommen nackte, nicht maskierte, Wirklichkeit heranzukommen, an sein gedankenloses, empfindungsloses, gefühlloses, körperloses, ichloses Selbst. Es ist die Angst, die Identität zu verlieren, nicht mehr zu wissen, wer man ist. Denn man definiert sich selbst ja durch das, was man tut und nicht tut; nur so weiss man, wer man ist.
Doch sagt mir mein Tun und Lassen wirklich, wer ich bin? Ist dieses Tun und Lassen nicht durch mein Gedanken- und Gefühlsleben bestimmt? Das heisst: Bin ich bloss mit meinen Gedanken und Gefühlen identifiziert, welche nichts als Vorstellungen sind?
Jenseits von Masken und Kostümen
Im Buddhismus sagt man: Erkenne deine wahre Natur – nicht nur deine persönliche, menschliche oder tierische Natur, sondern deine Buddhanatur. Im Zen sagt man: Erkenne dein wirkliches Wesen, dein Urwesen, nicht das, was hier temporär mit diesem Körper und diesen Gedanken herumläuft. Im Hinduismus sagt man: Erkenne dein absolutes Selbst, Atman, oder deine Urseele, Purusha. Es geht immer um dasselbe. Alles, was als Person agiert ist nur eine temporäre Rolle, steckt in temporären Bekleidungen – gedanklichen Bekleidungen, körperlichen Bekleidungen, sinnlichen Bekleidungen usw.
Die Frage ist immer noch: Ist die Rolle, die man spielt, ernst zu nehmen oder ist sie nicht ernst zu nehmen?
Meine Antwort lautet: Spielt man eine Rolle, so soll man wissen, dass es eine Rolle ist und sie so gut wie möglich spielen. In dem Sinne ist sie durchaus ernst zu nehmen. Aber man soll sich selbst nicht ernst nehmen dabei. Denn was sich «ich» nennt und «meine» Rolle spielt, ist reine Vorstellung.
Die Meditationspraxis, als Weg zum Erkennen des eigenen wahren Wesens, des nackten Selbst, wie man es auch nennen könnte, ist keine lächerliche Angelegenheit, kein dummer Witz, aber sie ist auch nicht ernst zu nehmen. Man muss aufhören mit der Vorstellung von: Ich bin es, der sich hinsetzt und Meditation macht, um zur Erkenntnis zu kommen und dann die Erleuchtung zu haben. Kurz gesagt: Man soll die Meditationsübung sowohl ernst als auch nicht ernst nehmen oder umgekehrt, weder ernst noch nicht ernst nehmen. «Wichtig» und «nicht-wichtig», «ernst» und «trivial», das sind alles nur Vorstellungen.
Kann man nun verstehen, warum Hotei auf jegliche Frage antwortet: «Hohohohohohoh, gib mir einen Pfennig.» Gibt es so etwas wie Wahrheit? Hohohohohohoh! Gibt es so etwas wie keine Wahrheit? Hohohohohohoh! Gibt es so etwas wie Buddha? Hohohohohohoh! Gibt es so etwas, wie kein Buddha? Hohohohohohoh! Jegliche Frage wird so beantwortet.
Mu
Dasselbe ist gesagt mit dem Zen-Wort Mu!
Mu bedeutet „nein“. Gibt es so etwas wie keine Wahrheit? Nein. Gibt es so etwas wie Erleuchtung? Nein. Gibt es so etwas wie keine Erleuchtung? Nein. Gibt es so etwas wie Buddha? Nein. Gibt es so etwas, wie kein Buddha? Nein.
Allem Ja wird mit Nein begegnet, allem Nein wird mit Nein begegnet. Dem Nein wird mit Nein begegnet, dem Ja wird mit Nein begegnet. Dieses Mu ist genau dasselbe wie Hoteis „Hohohohohoho!“ Zen ist eigentlich nichts weiter als eine Übung, um das wahrhaftige Wesen der Wirklichkeit von «nicht-dieses-und-nicht jenes» zu realisieren. So wie das Herz-Sutra sagt: Nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu riechen, nichts zu schmecken – mu, mu, mu – nicht dieses und nicht jenes.
Man darf keine Angst haben, seine Identität zu verlieren, wenn man keine Rolle spielt. Man darf keine Angst haben, in die grosse Leere von Mu zu fallen.
Man soll sich auch nichts vormachen: Man verliert seine Identität nicht, wenn man solche Wort bloss singt oder bloss Zazen «macht». Man hängt immer noch an sich selbst – immer noch! Im Meditationszustand, in der wirklichen Tiefe, ist kein sogenanntes Selbst vorhanden, kein Wollen und kein Erreichen, weder Erleuchtung noch Nicht-Erleuchtung.
Die Zen-Meditation beruht auf dem grundlegenden Lehrsatz: Entleere deinen Geist! Entleere ihn von sämtlichen Vorstellungen, sämtlichen Gedanken und Gefühlen, von sämtlichen Objekten der Aussenwelt und sämtlichen Objekten der Innenwelt. Entleere deinen Geist von all dem, und mit diesem reinen entleerten Geist tauche in die wahrhaftige Wirklichkeit ein, Tao oder Dharma genannt. Wenn man darin eingetaucht ist, ist das sogenannte persönliche Selbst nicht da.
Das, was ernst zu nehmen ist
Dieser Zustand ist das Einzige, das ernst zu nehmen ist. Keine Maske, kein Ich, das sich mit diesem und jenem identifiziert, dieses vollkommene Loslassen von dem, was man sein Selbst nennt, das ist das Einzige, das ernst zu nehmen ist.
Alles andere ist ein Theaterstück – ein Zirkus.
Man kann nicht willentlich aus dem Bauch heraus „Hohohohohohoh!“ lachen wie Hotei – das kann man nicht «machen», das muss von selbst in einem auftauchen – aber man kann mit Mu sitzen. Sämtlichen Gedanken, sämtlichen Empfindungen, sämtlichen Bildern, sämtlichen Vorstellungen, allem «Ichigen», allem Äusseren und allem Inneren, sämtlichen Gefühlen, Erinnerungen und Erlebnissen mit Mu begegnen, das kann man tun. Ohne Vorstellungen, ohne Erwartungen, mit vollkommen gedankenleerem Gewahrsein. Dieser leere Mu-Geist ist das wahre Wesen, die sogenannte Buddha-Natur. Sie ist vollkommen leer.
Die Leerheit ist leer und alle Erscheinungen sind leer. Das ganze Universum ist leer und sämtliche Existenzformen im leeren Universum sind von dieser Leerheit durchdrungen. Alles entsteht aus der wesenhaften Leere. Darum liest man bei Lao Tse im «Tao te King», dass die zehntausend Dinge – das heisst sämtliche Erscheinungsformen – aus dem einen Sein entstehen, aber das Sein kommt aus dem Nicht-Sein.
Das Leben ist ein andauerndes Sein und Werden. In der Zen-Philosophie spricht man vom allgegenwärtigen, einheitlichen Sein und dem modifizierten, individuellen Dasein. Aber beides basiert auf dem Nicht-Sein. Oder anders gesagt: Alles was existiert – von einem Atom oder Molekül bis hin zu einem Planeten und dem ganzen Universum – kann nur durch die Leerheit existieren. Das ist eine Tatsache.
Das unendliche Spiel
Es ist wie im Theaterstück: Wenn der Vorhang fällt, alle Kulissen weg sind, ist nur mehr die leere Bühne da. Das Stück ist zu Ende, die Kulissen weggeräumt, nichts. Wenn der Zirkus vorbei, ist nichts weiter da, als die leere Manege. Keiner mehr da, kein Mensch, kein Tier, kein Dompteur – nichts. Das ist der wahre Zustand des natürlichen, leeren Geistes. Diesen Zustand in der Meditation, Dhyana, zu realisieren und im Alltag zu aktualisieren, das ist Zen.
Und dann gibt es wieder ein Theaterstück mit Kulissen. Dann gibt es wieder einen Zirkus. Aber nicht ohne die leere Manege oder die Bretter der leeren Bühne. Diese müssen zuerst da sein und dann kann das Spiel anfangen. Und es ist einfach bloss ein Spiel, ein Zirkus oder ein Theaterstück. Immer neu. Niemals dasselbe.
Und wenn man im Alltag wieder als ein sogenanntes Selbst agiert, mit dem sogenannten persönlichen Ich, dann soll man sich der Leerheit, in der sich der Zirkus, das Theaterstück abspielt, gewahr bleiben.
Gesprochen am 25. Nov. 1989