Das andere Ufer ist hier

TN-DaUih

Das andere Ufer ist hier
Erläuterungen zum Plattform-Sutra des Sechsten Patriarchen

von Meister Sokei-an
ISBN 978-3-9524409-9-5

Kosten des gebundenen Buches: 12.00 CHF/€

Zu allen Zeiten bemühen sich Menschen darum, in ihrem persönlichen Leben und im Weltgeschehen einen Sinn zu finden. Denker der Vergangenheit schufen zu diesem Zweck unterschiedliche philosophische und religiöse Lehren, die von der jeweils lebenden Generation akzeptiert, kritisiert oder bekämpft wurden. Wir Menschen leben zwar alle auf der gleichen Erde und haben die gleichen grundlegenden Bedürfnisse, aber wie das Leben auf dieser Erde zu gestalten ist, darüber gehen die Meinungen bekanntlich weit auseinander. Diese Meinungsunterschiede führen einerseits zu fruchtbaren, intellektuellen und kulturellen Auseinandersetzungen, andererseits aber auch zu grauenhaften, sinnlosen Kriegen.

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Inhalt: Das andere Ufer ist hier

Vorwort der Herausgeberin 11
1 Sokei-ans Einführung zum Plattform-Sutra 17
2 Hui-neng erzählt seinen Werdegang 19

Hui-nengs öffentliche Ansprachen im Tafan-Tempel
3 Prajñāpāramitā — die Weisheit des Erwachens 64
4 Das Diamantbewusstsein 82
5 Ursprüngliche Freiheit 89
6 Falsch verstandene Geistesruhe 92
7 Nicht stecken bleiben 96
8 Freiheit von allen Lehrsystemen 102
9 Kein Verdienst 121
10 Das reine Land 128
11 Das vierfache Gelöbnis 132
12 Weder Kopf noch Schwanz 139

Persönliche Unterweisungen
13 Fa-ta senkt seine stolze Flagge 142
14 Chih-ch’ang sucht seine Urnatur 156
15 Hsing-ssü sucht nichts 161
16 Huai-jang, Quelle grosser Weisheit 165
17 Hsüan-chueh bleibt nur eine Nacht 169
18 Fang-pien macht eine Lehmfigur 175
19 Die kaiserliche Bitte 179
20 Hui-nengs Lied von der Formlosigkeit 184
21 Sokei-ans Schlussbemerkung 189
Literaturhinweis 192
Anmerkungen 193
Die Zen-Übertragungslinie von Sokei-an

Vorwort der Herausgeberin

Zu allen Zeiten bemühen sich Menschen darum, in ihrem persönlichen Leben und im Weltgeschehen einen Sinn zu finden. Denker der Vergangenheit schufen zu diesem Zweck unterschiedliche philosophische und religiöse Lehren, die von der jeweils lebenden Generation akzeptiert, kritisiert oder bekämpft wurden. Wir Menschen leben zwar alle auf der gleichen Erde und haben die gleichen grundlegenden Bedürfnisse, aber wie das Leben auf dieser Erde zu gestalten ist, darüber gehen die Meinungen bekanntlich weit auseinander. Diese Meinungsunterschiede führen einerseits zu fruchtbaren, intellektuellen und kulturellen Auseinandersetzungen, andererseits aber auch zu grauenhaften, sinnlosen Kriegen. 

Die Tatsache, dass das menschliche Denken – und zwar das Denken eines jeden einzelnen Individuums – entscheidend ist für das Ausmass an persönlichem und kollektiven Wohlergehen bzw. Leiden auf dieser Erde, wurde schon vor mehr als 2500 Jahren von Shakyamuni Buddha deutlich gemacht und von zahlreichen Weisen bestätigt. Trotzdem ist diese Wahrheit bis heute nicht im allgemeinen menschlichen Bewusstsein etabliert.

Noch immer suchen wir Menschen die Ursachen von Freud und Leid, Wohlstand und Armut bei allen möglichen äusseren Quellen, nur nicht im eigenen Denken und Handeln. Wir beklagen uns immer aufs Neue darüber, dass das Leben so viel Leiden mit sich bringt. Und finden immer neue Schuldige und zetteln immer neue Vergeltungskriege an, sei es in der materiellen oder in der psychologischen Welt. 

Es gab und gibt immer Menschen, die diesem unaufhörlichen Kreislauf von Täuschung und Enttäuschung entgegenzuwirken versuchen, indem sie an die menschliche Erkenntniskraft appellieren. Wer sein eigenes geistiges Potential für Weisheit und Mitmenschlichkeit in sich selbst entdeckt und aktiviert, kann sich von den schädlichen Denkmustern distanzieren und neue Wege des Zusammenlebens einschlagen. 

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Der gebürtige Japaner Shigetsu Sasaki, genannt Sokei-an (1882-1945), war einer von diesen Menschen. Sein Wirkungsfeld war die Stadt New York in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Vehikel, mit dem er die Menschen zu erreichen suchte, war die Lehre des Zen-Buddhismus. Zu einer Zeit, als diese Lehre in der westlichen Welt noch kaum bekannt war, geschweige denn verstanden und praktiziert wurde, gründete er in seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung das First Zen Institute of America.

Er übersetzte grundlegende japanische und chinesische Zen-Texte ins Englische, gab Vorträge und führte Frauen und Männer aus ganz unterschiedlichen Berufssparten in die Zen-Praxis ein. Vor allem Letzteres war eine Pionierleistung, denn zu seiner Zeit war diese Praxis selbst in ihren Ursprungsländern China und Japan fast ausschliesslich den Männern in den Zen-Klöstern vorbehalten. 

Sokei-an wurde als junger Kunststudent mit einer Bewegung bekannt, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Zen aus den japanisch-klösterlichen Strukturen und Ritualen zu befreien und wieder als eine allen Menschen zugängliche Weisheitslehre und Lebenshaltung bekannt zu machen, so wie es in den Ursprungszeiten in Indien und China üblich gewesen war. Zusammen mit Mitgliedern dieser Bewegung wanderte Sokei-an im Alter von vierundzwanzig Jahren nach Kalifornien aus. Es bestand die Absicht, dort ein Zen-Zentrum zu gründen. Zwar war dieses Unternehmen damals nicht von Erfolg gekrönt, aber Sokei-an blieb in den USA. Er kehrte nur drei Mal für kurze Zeit nach Japan zurück, um seinen Lehrer Sokatsu Soen zu besuchen und seine formelle Zen-Schulung zu beenden. 

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Er begann jedoch erst als Zen-Lehrer zu wirken, nachdem er fast zwanzig Jahre lang als Privatperson Land, Leute und Sprache gründlich kennen gelernt hatte. (Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Holzschnitzer und Restaurator von Altären und mit gelegentlichen journalistischen und satirischen Beiträgen für japanische Zeitungen.) Obwohl er ein anerkannter Meister der Rinzai-Zen-Schule war, wirkte er in Amerika völlig allein auf sich gestellt, losgelöst von sämtlichen finanziellen oder institutionellen Bindungen an sein Heimatland. 

Die einzige Bindung, zu der er sich bekannte, war die Bindung an das geistige Erbe, das ihm sein Zen-Lehrer in traditioneller Weise «von Herz zu Herz» übertragen hatte. Diese Übertragung ist das Markenzeichen des authentischen Zen-Buddhismus; nur wer nachweisen kann, dass er Stammhalter einer Übertragungslinie ist, die sich bis auf die legendären Vorväter des Zen, die sogenannten Patriarchen, berufen kann, wird als echter Zen-Meister anerkannt. 

Mit einem dieser Vorväter fühlte sich Sokei-an ganz besonders seelenverwandt, nämlich mit dem Sechsten Patriarch Hui-neng (jap. Eno Daikan). Schon als junger Zen-Schüler trug Sokei-an immer ein kleines Exemplar vom Sutra des Sechsten Patriarchen bei sich. Dieses Sutra ist auch bekannt unter dem Namen Das Plattform-Sutra.

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Hui-neng lebte um die Wende vom siebten zum achten Jahrhundert in China. Zu jener Zeit befand sich der Buddhismus in China in einer Hochblüte. Seine Form war allerdings auf Gelehrsamkeit und ein weltabgeschiedenes Klosterleben beschränkt. Als Gegenbewegung zu dieser intellektuellen, philosophischen Ausformung begann sich in China langsam eine Strömung zu entwickeln, die das intuitive Erfassen und die spontane Verwirklichung der Buddhaschaft anstrebte, wie sie von Buddha selbst gelebt worden war. (Diese Entwicklungsgeschichte ist das Thema des Buches Als Zen noch nicht Zen war inunserer Schriftenreihe Der springende Punkt.)

Hui-neng, der angeblich weder lesen noch schreiben konnte und allein durch die Kraft der Intuition bereits in jungen Jahren spontan vollkommene Erleuchtung erfuhr, manifestierte die Ideale dieser Strömung so deutlich, dass er zu deren Symbolfigur wurde. Alle Übertragungslinien der später entstandenen Zen-Richtungen gehen auf ihn zurück. 

«Sokei-an» ist die japanische Übersetzung für «Ts’ao-chi». Das ist der Name des Tempels und des Tales, in dem der Sechste Patriarch gewohnt und gewirkt hatte. Wie Hui-neng, lebte Sokei-an als einfacher Mensch mitten unter den Menschen und zeigte die Lebenshaltung und Lehre des Zen so, dass jedermann sie verstehen konnte. Er sagte: «Der Sechste Patriarch kam in den Süden von China und ich kam in den Osten von Amerika, um das Dharma zu lehren. Beide betraten wir Neuland.» 

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Wer Hui-neng wirklich war, ist bis heute nicht klar. Letztlich spielt es auch keine Rolle. Die grosse Bedeutung, die dem Sutra des Sechsten Patriarchen zukommt, liegt in seiner Kernaussage, dass ein ganz gewöhnlicher Mensch, der weder ein buddhistischer Gelehrter noch ein eifriger Mönch war, mit Hilfe der eigenen Intuition höchste Klarsicht und Einsicht in das wahre Wesen aller Dinge erlangten konnte und fortan, wie der Buddha, andere Menschen nicht nur ermunterte, sondern sie auch durch Wort und Tat unterstützte, sich ihrer eigenen angeborenen Erkenntniskraft zu öffnen. Damit wurde Hui-neng zum eigentlichen Gründer der Zen-Schule, die darauf hinwirkt, direkt aus der Quelle der innewohnenden Weisheit heraus zu agieren und die weit über das buddhistische Establishment oder jedes andere Glaubenssystem hinausgeht. 

Ab 1935 nahm sich Sokei-an vier Jahre Zeit, um das Sutra des Sechsten Patriarchen aus dem Chinesischen ins Englische zu übersetzen und fortlaufend zu kommentieren. Diese Übersetzung war nicht sprachwissenschaftlich orientiert, sondern  basierte ganz und gar auf Sokei-ans eigenen Erfahrungen in Japan und in den USA. Trotzdem stimmt sie weitgehend mit späteren Übersetzungen anderer englischsprachigen Autoren überein. Sokei-an strebte nichts anderes an, als seinen Zuhörern die Prinzipien der damals im Westen völlig unbekannten Zen-Weisheit nahezubringen. Er folgte dabei dem traditionellen Muster der Darbietung, indem er zuerst einen Abschnitt der Sutras vorlas und dann kommentierte. 

Sokei-an schrieb seine Vorträge nicht nieder, aber er erlaubte einigen Schülern und Schülerinnen, während des Vortrages mitzuschreiben. Jahre nach seinem Tod sammelte die damalige Leiterin des First Zen Institute of America, Mary Farkas (1911-1992), alle Notizen ein und bearbeitete sie zu einem Manuskript mit dem Ziel, sie in einem Buch zu veröffentlichen. Dieses Projekt liess sich leider zu ihrer Lebenszeit nicht realisieren; die Darlegungen Sokei-ans wurden in dieser Zeit ausschliesslich im institutseigenen Monatsblatt namens Zen Notes publiziert. 

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Auf Anregung und mit Hilfe meines Zen-Lehrers Henry B. Platov (Chikuen Kugai, 1904-1990), der als Schüler von Sokei-an die Zen-Vorträge selbst gehört hatte, unternahm ich es, diese ins Deutsche zu übertragen. So konnte ich meine praktische Zen-Schulung ergänzen und vertiefen. Mary Farkas war so freundlich, mir das ganze Textmaterial von mehr als 400 Seiten zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen. Daraus resultierte das 1988 erschienene Buch Der 6. Patriarch kommt nach Manhattan (Theseus Verlag). 

Seither sind dreissig Jahre verstrichen, und noch immer greife ich auf diese Quelle der Weisheit zurück, wenn es darum geht, in meiner gegenwärtigen Funktion als Zen-Lehrerin die zeitlosen Prinzipien von Buddhas Lehre in der heutigen Zeit fruchtbar zu machen. 

Vorbemerkung zur deutschen Wiedergabe

Bei der Übertagung ins Deutsche kam es da und dort zum Konflikt zwischen dem Bemühen, möglichst nahe am englischen Text zu bleiben, und dem Anspruch, den veränderten sprachlichen Gepflogenheiten der heutigen Zeit gerecht zu werden. Die Worte und Sinnbilder, die Sokei-an benutzte, mögen heutzutage vielleicht teilweise veraltet oder befremdlich sein. Aber es ist nicht die Absicht dieses Buches, die sprachlichen Formen der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zu verleugnen, sondern ihre zeitlose Bedeutung hervorzuheben. 

Hinweis zur Schreibweise

Sutra-Text und Kommentar werden optisch durch unterschiedliche Schriftbilder auseinandergehalten:

  • Der Sutra-Text steht in Schrägschrift mit eingerückten Zeilen.
  • Der Kommentar steht in Normalschrift ohne Einrückung. 
  • Zitate aus dem Sutra-Text innerhalb des Kommentars werden ebenfalls in Schrägschrift wiedergegeben. 

Für die Schreibweise der chinesischen Personennamen und Orte habe ich mich an das System gehalten, das Isshu Miura und Ruth Fuller-Sasaki in ihrem Werk Zen Dust (Harcourt, Brace & World, N.Y.) verwendet hatten. Die Schreibweise der Sanskritausdrücke entnahm ich dem Lexikon der östlichen Weisheitslehren (Scherz Verlag Bern, 1986). 

Die ergänzenden Anmerkungen, die im englischsprachigen Manuskript als die von Sokei-an angeführt sind, werden als solche gekennzeichnet. Die von Mary Farkas zugefügten Anmerkungen tragen das Kürzel MF; alle anderen stammen von mir als Herausgeberin.

Sokei-ans Einführung zum Plattform-Sutra

Das Sutra des Sechsten Patriarchen, kurz Plattform-Sutra genannt, ist der erste bekannte Text der Zen-Schule. Es gibt ungefähr drei Versionen. Eine davon wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Tun-huang im Westen von China gefunden. Eine weitere Version entdeckte man in einer alten Bibliothek in Japan, wo sie etwa achthundert Jahre lang in einem unbeachteten Stapel von Sutras gelegen hatte. Wenn man die verschiedenen Versionen miteinander vergleicht, findet man einige interessante Unterschiede, doch das Grundgerüst ist in allen dasselbe. Die Unterschiede stammen vermutlich von den verschiedenen Mönchen, die die Lehrreden des Patriarchen aufgezeichnet haben. So wie ihr jetzt Notizen von meinen Lektionen macht. Würden diese veröffentlicht gäbe es Unterschiede. Die Grundaussagen wären jedoch gleich.

Die Version, die ich für meine Übersetzung benutze, habe ich gewählt, weil es die vollständigste ist und von einem gelehrten Zen-Mönch stammt. Sein Name ist Tsung-Pao. Die anderen Versionen sind weniger ausführlich und gehen weniger tief. 

Sämtliche Schulen des Buddhismus gehen auf die Worte und Taten von Shakyamuni Buddha zurück und alle verehren diesen Buddha als ihren ursprünglichen Lehrer. Im Zen wird der Titel «Patriarch» nur für Menschen verwendet, die das, was der Buddha lehrte, durch ihr eigenes Tun übermittelt haben und deshalb als direkte Nachfolger von Buddha angesehen werden. Buddhas Schüler Mahākasyapa gilt als der erste Patriarch in Indien. Er soll von Shakyamuni selbst als ebenbürtiger Lehrer anerkannt worden sein. Der zweite Patriarch war Ananda, der immer an Shakyamunis Seite gelebt und alle Lehrreden gehört und im Gedächtnis behalten hatte. 

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Der legendäre Mönch Bodhidharma gilt als der Achtundzwanzigste Patriarch in Indien und der erste Patriarch in China. Der zweite chinesische Patriarch war Hui-k’o, der dritte Seng-ts’an, der vierte Tao-hsin, der fünfte Hung-jen und der sechste Hui-neng. Nach Hui-neng hört die Zählung der Patriarchen auf, nicht aber die direkte Übertragung von einem Lehrer auf den anderen. 

Die eigentliche Zen-Schule nahm ihren Anfang mit Hui-neng. Denn mit ihm und seinen Nachfolgern begann die Entwicklung eines speziellen Zweiges des Buddhismus, genannt Ch’an (jap. Zen). Dieser ist gekennzeichnet durch die Betonung der aktuellem Anwendung der intuitiven Buddha-Weisheit im täglichen Leben, im Gegensatz zur mehrheitlich philosophischen oder ritualen Beschäftigung mit Buddhas Lehre oder der strenggläubigen Anwendung von Regeln im monastischen Umfeld. 

Man kann mit gutem Grund sagen, dass im Sutra des Sechsten Patriarchen die ganze Theorie der Zen-Schule enthalten ist. Alles, was man in Bezug auf Zen sagen kann, wurde damals gesagt. Das heutige Zen ist hauptsächlich die Anwendung des schon Gesagten.

Hui-neng erzählt seinen Werdegang

Das erste Kapitel des PlatttformSutras enthält Hui-nengs Lebensgeschichte, wie er sie zu Beginn seiner Lehrtätigkeit auf der berühmten Plattform selber erzählt haben soll. Es beginnt, wie fast alle Sutras mit der Beschreibung des Szenariums. 

Als der grosse chinesische Meister Hui-neng (638-713) im Tempel Pao-lin in Nan-hai ankam, besuchte ihn der Präfekt von Shau-chou zusammen mit anderen Vertretern der Regierung und bat ihn, im Tafan-Tempel in Shau-chou über die Lehre des Buddhismus zu sprechen. Der Meister willigte ein. Zur vereinbarten Zeit versammelten sich über dreissig konfuzianische Gelehrte und etwa tausend buddhistische Mönche, Nonnen und Laien. Nachdem der Meister seinen Sitz auf der Plattform eingenommen hatte, verbeug- ten sich alle in freudiger Erwartung einer Lektion über das Dharma.

Die Plattform bestand aus einer Anhäufung aus Erde vor dem Tafan-Tempel. Sie wurde vermutlich errichtet, damit alle Anwesenden den kleinwüchsigen Patriarchen sehen konnten, als er vor der grossen Versammlung seinen ersten Dharma-Vortrag hielt. Das Wort «Dharma» steht sowohl für die geistige Gesetzmässigkeit des Universums als auch für die Lehre Buddhas.

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Der Meister sagte: «Meine guten Freunde, die Essenz unseres Geistes ist von Natur aus rein. Sie ist die Wurzel unseres Erwachens (Bodhi). Um ein Buddha zu sein, brauchen wir sie nur anzuwenden. Gebt mir etwas Zeit und ich erzähle euch, wie ich selbst damit bekannt wurde und schliesslich in den Besitz der Lehre der Dhyāna-Schule kam: 

Mein Vater war ein Beamter in Fan-yang. Doch er verlor seine Stelle. Nach mehreren Wanderjahren liess er sich als gewöhnlicher Bürger in Hsin-chou, in der Provinz Kwang-chou (Kanton) nieder. Er starb, als ich noch ein kleiner Junge war und liess meine Mutter mit mir allein zurück. Wir zogen nach Nan-hai, wo ich wegen unserer grossen Armut gezwungen war, auf dem Markt Feuerholz zu verkaufen. 

Eines Tages beauftragte mich ein Kunde, eine Ladung Holz zu seinem Haus zu bringen. Nachdem ich das Holz abgeliefert und dafür eine aussergewöhnlich hohe Entlohnung empfangen hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Da bemerkte ich an einer Strassenecke einen Mann, der ein Sutra rezitierte. Als ich die Worte hörte, wurde mein Geist plötzlich hell und klar. Ich fragte den Fremden nach dem Namen des Sutras und erfuhr, dass es sich um das Diamant-Sutra handelte.

Ich erkundigte mich, woher er dieses Sutra kenne. Er antwortete, er komme aus der Provinz Huang-mei vom Tung-Ch’an-Tempel. Dieser Tempel werde vom Fünften Patriarchen, Hung-jen, geführt, der mehr als tausend Mönche und Laienanhänger unterweise. Bei ihm habe er Vorträge über dieses Sutra gehört. Der Patriarch halte alle an, nur dieses eine Sutra zu studieren, weil jeder Mensch, der sich danach richte, dadurch seine wahre Natur entdecken und ein Buddha werden könne.» 

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Als Hui-neng den Mann an der Strassenecke das Sutra rezitieren hörte, hörte er wirklich zu. Und plötzlich war ihm, als stünden ihm die Haare zu Berge – «O!» Mit einem Schlag sah er alles im Licht der Wirklichkeit und nicht wie bisher, im Lichte seiner eigenen Person. Diese Klarsicht trat völlig unerwartet ein, ohne Vorbereitung. Eine derartige Erfahrung kommt nicht zu Stande, indem man Bücher darüber liest oder an eine Veranstaltung geht, wo einem ein Guru in die Nase kneift oder ein Prediger auf die Stirne schlägt und dafür fünfundzwanzig Dollar verlangt.

Es kann nur geschehen, wenn der Geist in seiner natürlichen Wachsamkeit gesammelt ist, und zwar in jedem Augenblick. Wenn der Geist schläft, entgehen ihm die Möglichkeiten, mit der allgegenwärtigen Wirklichkeit spontan in Kontakt zu kommen. 

Eine bekannte Geschichte veranschaulicht dieses Prinzip: Ein Mönch fegte jeden Tag mit grosser Konzentration den Garten. Eines Tages schlug ein Kieselstein gegen einen Bambus – «klick». Bei diesem Geräusch – «O!» – fand sich der Mönch plötzlich in seiner absoluten Weisheit. Zuvor hatte er lange Jahre umsonst um Erkenntnis gekämpft. Wäre sein Geist beim Fegen nicht vollständig gesammelt gewesen, hätte das alltägliche Geräusch des Kieselsteines nichts bewirkt. Er hätte den Moment verpasst. 

Ein anderer Mönch meditierte viele Tage und Nächte lang. Eines Morgens hallte, wie immer um diese Zeit, der Klang der Tempelglocke durch die Luft. Doch diesmal war dem Mönch, als käme der Klang vom Boden seines eigenen Geistes. Plötzlich erkannte er, dass das ganze Universum in ihm war. – So sollte man seine wahre Natur finden, unmittelbar, ohne Gedanken dazwischen. 

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In der späteren Überlieferung erhielten Hui-nengs Kinder- und Jugendjahre und vor allem die Begebenheit mit der grosszügigen Entlohnung allerlei Ausschmückungen. Die Einführung von mysteriösen Elementen sollte wohl den Eindruck vermitteln, Hui-neng sei von einer unbekannten Macht zur Erleuchtung hingezogen worden. Dahinter steht der Glaube, dass eine Erleuchtung durch bestimmte Erlebnisse in vielen vorangegangenen Verkörperungen vorbereitet wird. Diese Idee ist keineswegs nur im Buddhismus zu finden, sie gehört ganz allgemein zum indischen Gedankengut. Auch von Shakyamuni Buddha heisst es in den Jataka-Erzählungen, er sei während vieler Inkarnationen ein Bodhisattva gewesen, bis er schliesslich unter dem Bodhibaum endgültige Klarsicht und Buddhaschaft erlangte.

Das Diamant-Sutra (Vajrachchedikā-Prajñāpāramitā-Sūtra), das der Fremde an der Strassenecke rezitierte, hat diesen Namen, weil es von der transzendenten Weisheit handelt, die alle Täuschungen wie ein Diamant durchschneidet und einen zum sogenannten anderen Ufer der Existenz gelangen lässt. Es wurde etwa fünfhundert Jahre nach Buddhas Tod in Indien verfasst. 

Das Diamant-Sutra enthält eine zentrale Lehrrede des Buddhismus. Alle Zen-Praktizierenden sollten es studieren und beherzigen. Es ist jedoch nicht nötig, den ganzen Text zu lesen; es genügt die drei wesentlichen Punkte zu erfassen. In der Zen-Schulung werden diese in Form von drei Kōans studiert. Sie lauten:

  1. Ohne von etwas abhängig zu sein, manifestiere deinen  Geist. 
  2. Buddha und seine Erleuchtung entspringen dem Diamant-Sutra. Was ist das Diamant-Sutra?
  3. Willst du den Tathāgata mit den Augen sehen oder mit den Ohren hören, bist du auf dem falschen Weg. Wie kannst du dem Tathāgata begegnen. 

Diese drei Aussagen werden «die drei Augen des Diamant-Sutra» genannt. Wer sie gründlich durchdringt, kennt das Diamant-Sutra, das nicht auf Papier geschrieben steht.

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Was Hui-neng hörte, trat wirklich in sein Herz ein. Auch uns wird vieles gesagt, aber wenn wir nicht wirklich zuhören, erreicht die Information, die sehr wertvoll sein könnte, nicht einmal unsere Ohren. Gerade jetzt wisst ihr viele triviale Dinge, wie z.B. die Abfahrtszeit der Bahn, die euch nach meinem Vortrag nach Hause bringen wird, doch das, was zu hören ein wirklicher Glücksfall wäre, nehmt ihr nicht auf. 

(Der Patriarch fuhr fort:) «Ich, Hui-neng, hatte das Glück, dies zu vernehmen. Es könnte sein, dass mich ein karmisches Band aus einer früheren Verkörperung mit diesem Sutra verband und dass mir deshalb ein fremder Kunde genügend Geld gab, um meine alte Mutter für einige Zeit zu versorgen, und ein anderer Fremder mir von Hung-jen erzählte und mich ermunterte, zu ihm zu gehen. Also versorgte ich meine Mutter mit allem Notwendigen und bat sie um die Erlaubnis, zum Patriarchen gehen zu dürfen.» 

In der buddhistischen wie in der fernöstlichen Auffassung überhaupt glaubt man, dass Menschen, die sich in diesem Leben begegnen und lieben, bereits in einer früheren Verkörperung miteinander in Beziehung gestanden haben könnten. Man hält es für möglich, dass aus Eltern und Kindern in einem anderen Leben Ehegatten werden. Oder eine karmische Beziehung wiederholt sich so, dass man sich in der Bahn oder an einer Strassenecke «zufällig» begegnet und zu engen Freunden wird. 

Es kann geschehen, dass ein buddhistischer Schüler zehn oder fünfzehn Jahre lang im Tempel immer dasselbe hört, ohne es je zu verstehen, weil er so sehr an Vorstellungen und anderen Täuschungen hängt. Dann tröstet ihn ein anderer Mönch vielleicht mit den Worten: «Du magst es in diesem Leben nicht erreichen, aber sicher im nächsten.» Das ist eine sehr freundliche Aufmunterung. Der Schüler wird sie sehr ernst nehmen und tapfer für das nächste Leben üben. 

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Im Plattform-Sutra gibt es weitere Beispiele dieser Bezugnahme auf karmische Beziehungen. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um buddhistische Sentimentalität. Doch die Vorstellung, dass sich das Leben eines Menschen nicht nur auf diese eine Lebensdauer beschränkt, ist sehr optimistisch. 

Man kann auch Unfug treiben mit derartigen Ideen. Wenn ein junger Mann versucht, an eine junge Dame heranzukommen, die sich wie er während eines Regenschauers unter einen Baum geflüchtet hat, sagt er vielleicht: «Es muss zwischen uns eine Anziehung aus einem früheren Leben geben, sonst stünden wir jetzt nicht zusammen unter diesem Baum.» Ich bin ziemlich sicher, die alten indischen Weisen hatten nicht im geringsten daran gedacht, dass ihre Lehre der Reinkarnation dazu benützt würde, um an junge Damen heranzukommen. 

Einst erlebte ich, wie ein Nachtfalter in ein Kerzenlicht geflogen war und jemand versuchte, das zappelnde Tier zu töten. Da sagte ein anderer: «Tue das nicht, es könnte der Geist deiner Grossmutter sein.» Diese Auffassung mag ja recht poetisch sein, sie ist aber auch lächerlich. Sollte meine Grossmutter in einer Fliege verkörpert sein, würde ich sie sofort töten, um sie von diesem schrecklichen Körper zu befreien. 

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(Der Meister fuhr fort:) «Nach einer Wanderung von ungefähr dreissig Tagen erreichte ich Huang-mei. Sobald sich die Gelegenheit bot, suchte ich den Patriarchen auf und erwies ihm meine Verehrung. Er fragte mich: ‹Woher kommst du und was wünschst du?› Ich antwortete: ‹Ich bin ein Bürger von Hsin-chou. Ich legte diesen langen Weg zurück, um dem Meister die Ehre zu erweisen. Ich wünsche, ein Buddha zu werden.› Der Meister erwiderte: ‹Du stammst aus dem Süden, also gehörst du zu den Barbaren. Wie könntest du als solcher ein Buddha werden?› Ich sagte: ‹Ein Mensch mag vom Norden oder Süden kommen und ein Barbar mag sich äusserlich von einem Abt unterscheiden, doch in der Buddhanatur gibt es keine Unterschiede.›» 

Der Fünfte Patriarch, Hung-jen, war ein berühmter Zen-Meister. Sein Kloster lag im Norden Chinas am Berg Huang-mei und beherbergte etwa tausend Schüler. Hui-nengs Heimat lag im Süden Chinas, im heutigen Distrikt von Kanton. Er legte den ganzen Weg zu Fuss zurück. Heutzutage ist Kanton eine grosse Stadt, doch während der Tang-Dynastie war es ein kleines Dorf. Der Süden galt im Vergleich zum Norden als rückständig. 

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Es war Brauch, dass der Abt eines Klosters jeden Morgen in den Haupttempel kam, um die neu angekommenen Besucher zu empfangen. Ähnlich wie bei einem Empfang in Amerika traten diese einer nach dem andern vor. Zwar schüttelte man dem Gastgeber in China nicht die Hand wie in Amerika, die Besucher knieten vor dem Meister nieder, berührten mit der Stirne den Boden und hoben die Hände mit der Innenseite nach oben leicht an. In Indien nahmen die Besucher die Füsse des Verehrten in die Hände und berühren sie mit der Stirn; in China deutete man diese Geste symbolisch an. Diese formelle Begrüssung ist in der traditionellen Zen-Schulung noch heute üblich. Sie ist Ausdruck von Respekt und Verehrung gegenüber dem Lehrer. 

Die Frage «Woher kommst du und was wünschst du?» ist eine ganz gewöhnliche Frage, doch wenn sie von einem Zen-Meister gestellt wird, kann sie eine tiefere Bedeutung haben. Aus der Antwort kann ein Meister sehen, ob jemand schon eine gewisse Erkenntnis hat oder noch völlig unbewusst ist, bar jeglicher Selbsterkenntnis. Hui-nengs Antwort «Ich bin ein Bürger von Hsin-chou und legte diesen langen Weg zurück, um dem Meister die Ehre zu erweisen. Ich wünsche, ein Buddha zu werden.» war keinesfalls leichtfertig.

Es braucht Nerven, um so grosse Worte zu machen. Aber er hatte natürlich damals, als er den Fremden aus dem Diamant-Sutra rezitieren hörte, eine echte Erkenntnis gehabt. Also konnte er nicht warten und war, viele Strohsandalen zu Grunde richtend, in Feldern und Felsnischen übernachtend, nach Huang-mei geeilt. Er war aber auch bescheiden, denn er erwähnte nicht, dass er der Sohn eines ehemaligen Regierungsbeamten war, sondern bezeichnete sich schlicht als gewöhnlichen Bürger. 

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Es besteht kein Zweifel, dass dieser aussergewöhnliche Besucher die Aufmerksamkeit des Fünften Patriarchen weckte. Dessen Erwiderung: «Du stammst aus dem Süden, also gehörst du zu den Barbaren.» war ein Test für Hui-neng. Einen vielversprechenden Neuankömmling abweisend zu behandeln ist möglicher- weise eine veraltete Testmethode, doch sie ist ausgezeichnet. Aus der Reaktion erkennt ein Meister den Charakter des Neuankömmlings sofort. Hui-nengs Antwort kam ohne Zögern: «Ein Barbar mag sich äusserlich von einem Abt unterscheiden, doch in der Buddhanatur gibt es keine Unterschiede.» 

Das Wort «Buddha» bezeichnet ursprünglich einen «Erwachten», d.h. ein Bewusstsein, das um sein eigenes Wesen weiss. Es stammt vom Sanskritwort «bodhi» ab. «Bodhi» bedeutet  wörtlich «erwachen» bzw. die vollkommene Einsicht in das wahre Wesen aller Existenz. Die Buddhanatur ist dementsprechend die angeborene Weisheit, die die höchste Erkenntnis ermöglicht. Das ganze Sutra des Sechsten Patriarchen und die Bemühungen aller ihm nachfolgenden Zen-Meister dienen nur dem Zweck, anderen Menschen zur Erkenntnis ihrer Buddhanatur zu verhelfen. All die vielen Sutras sagen letztlich nur eins: «Handle ganz natürlich, in Übereinstimmung mit deinen Lebensumständen! Dann kommt dein Buddhawesen von selbst zum Ausdruck.» Das ist das Wesentliche, die Schlussfolgerung dieser Lehre.

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Als ich 1906 zum ersten Mal nach Kalifornien kam, erlebte ich die damalige Rassendiskriminierung gegenüber den Japanern am eigenen Leibe. Einmal wartete ich auf einen Bus, doch der Fahrer hielt nicht an. Ich rannte hinter dem Bus her und winkte, doch umsonst. An der nächsten Station standen zwei Frauen; ich rannte, um mit ihnen zusammen einzusteigen, doch als ich ankam, fuhr der Bus mir wieder vor der Nase weg. Es war sehr ärgerlich.

Wann immer ich diese Vorurteile der Amerikaner zu spüren bekam, rief ich mir die Antwort Hui-nengs ins Gedächtnis und sagte mir: «Japaner und Amerikaner mögen sich äusserlich unterscheiden, doch die Buddhanatur ist in allen dieselbe.» Doch Rassenvorurteile gibt es überall, nicht nur in Amerika. Ich erinnere mich, wie seltsam ich mich fühlte, als ich als Kind zum ersten Mal einen weissen Matrosen sah. 

(Der Meister fuhr fort:) «Es schien, als wollte der Patriarch weiter sprechen, doch er hielt inne. Er forderte mich auf, mich zusammen mit den Mönchen an der Arbeit zu beteiligen. Ich sagte: ‹Weisheit wächst immer aus dem eigenen Geist. Wenn man nicht davon abweicht, findet man das Feld des Verdienstes; ich bin gespannt, mein Lehrer, welche Arbeit Sie von mir verlangen.› Der Patriarch erwiderte: ‹Dieser Barbar ist zu dreist. Kein Wort mehr, mach dich an die Arbeit!› Also zog ich mich zurück und begab mich in den hinteren Teil der Klosteranlage. Mir wurde aufgetragen, Holz zu spalten und Reis zu dreschen, was fortan meine ständige Beschäftigung war.» 

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In Übereinstimmung mit der Tempelordnung befahl der Fünfte Patriarch Hui-neng, sich eine Arbeit zuweisen zu lassen. Das bedeutete, dass er ihm erlaubte, im Tempel zu bleiben. Jeder Neuankömmling, Mönch oder Laie, musste vom ersten Tag an bei der körperlichen Arbeit mithelfen. Hui-neng hatte aber noch etwas zu sagen: «Weisheit wächst immer aus dem eigenen Geist. Wenn man nicht davon abweicht, findet man das Feld des Verdienstes.» Als Mönch hätte er nichts dergleichen gesagt. Ein Mönch sagt, wenn er zur Arbeit abgeordnet wird, einfach «Ja» und geht. Doch Hui-neng kannte die Regeln nicht.

Das Feld des Verdienstes ist kein Ölfeld und keine Goldmine; es ist die immerwährend sprudelnde Quelle in unserer Seele, die uns das Verstehen des menschlichen Lebens ermöglicht. Warum müssen wir arbeiten? Warum müssen wir uns anstrengen? Warum lebe ich? Ein Mensch, der sich sein Leben lang nie solche Fragen stellt und kein Verstehen sucht, unterscheidet sich geistig kaum von einem Tier. 

Die Weisheit, die aus dem eigenen Geist wächst, ist nicht erworbenes, intellektuelles Wissen. Sie ist das angeborene Wissen in uns. Wir Menschen empfinden nicht nur Lust und Schmerz, wir denken auch nach. Das Denken ist die Fähigkeit, die der angeborenen Weisheit entstammt. In welchem Körperteil sitzt diese Weisheit? Wir sagen gewöhnlich, sie sitze im Kopf, genauer im Gehirn. In welchem Teil des Gehirns? Wir wissen, dass sie in uns wirkt, aber wir können sie trotz allem Suchen keinem bestimmten Körperteil zuordnen.

Es ist wie mit dem Sehen. Die Wahrnehmung ist nicht in den Augen lokalisiert. Ich kann den Himmel sehen: er ist blau. Ich kann eine Blume sehen, sie ist rot. Wer sieht? Es gibt eine Funktion in mir, die sieht, doch ich kann sie nicht lokalisieren. Unsere Weisheit denkt, unsere Weisheit weiss, unsere Weisheit speichert Gedanken. Sie stellt vernünftige Überlegungen an. Diese Weisheit nennen wir «Buddha». 

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«Es waren mehr als acht Monate vergangen, als der Patriarch eines Tages vorbei kam, während ich gerade das Rad der Dreschmaschine trat. Er sagte: ‹Ich hielt deine Äusserungen für annehmbar, doch ich befürchtete, andere Mönche mit schlechtem Charakter könnten neidisch werden und dir Böses antun. Deshalb habe ich nicht mehr mit dir gesprochen. Hast du das verstanden?› Ich erwiderte: ‹Ja, ich verstand meines Meisters Absicht. Das ist auch der Grund, warum ich nie zur Vorderseite des Tempels gegangen bin. Dadurch konnte niemand auf mich aufmerksam werden.›» 

Hui-neng verbrachte acht Monate mit harter Arbeit und sagte kein Wort über seine Erkenntnis oder irgendwelche geistigen Belange. Dies beweist, dass er das Zeug für die echte Wahrheitsfindung in sich trug. Es scheint mir jedoch etwas seltsam, dass der Fünfte Patriarch in die Scheune gekommen und eine Erklärung seines Verhaltens abgegeben haben soll. Vielleicht wurde dieser Abschnitt erst später von jemandem eingesetzt, der seine Bewunderung für den Sechsten Patriarchen zeigen wollte. Auch glaube ich nicht, dass Hui-neng nie zur Vorderseite des Tempels gegangen war, weil jemand neidisch auf seine Beziehung zum Fünften Patriarchen hätte sein können.

Das scheint mir an den Haaren herbeigezogen. Hui-neng war nicht ein Mann, der etwas im voraus plante. Er war ein aufrichtiger Schüler. Wenn er denn nicht zur Vorderseite der Tempelanlage gegangen war, dann deshalb, weil er dort einfach nichts zu suchen hatte. Vermutlich war er mit seinen eigenen Gedanken so beschäftigt, dass die acht Monate wie im Traum vergingen. Er befand sich im Samādhi der ununterbrochenen Meditation – er drosch Reis und vertiefte sich in seine eigene Weisheit. Er versuchte nie, dem Fünften Patriarchen zu begegnen. Diesen Teil könnte man wirklich weglassen. Doch da er in der Version vorhanden ist, die üblicherweise benutzt wird, übersetze ich es so, wie es ist. 

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«Kurz darauf versammelte der Fünfte Patriarch alle seine Schüler und sagte: ‹Die Frage von Leben und Tod ist von grosser Wichtigkeit für jeden Menschen. Doch statt Befreiung vom Ozean von Leben und Tod zu suchen, trachtet ihr nur danach, gute Verdienste anzusammeln. Aber solange euer Geist in Täuschungen verharrt, kann euch Verdienst nicht retten. Geht in eure Klause und erforscht eure eigene wahre Natur. Jeder soll mit Hilfe seiner eigenen innewohnenden Weisheit (Prajñā) ein Gatha machen und mir vorlegen.

Demjenigen, der das wesentliche Prinzip des Buddhismus am klarsten erfasst hat, will ich die Kutte und das Dharma übergeben und ihn zum Sechsten Patriarchen erklären. Macht euch sofort an die Arbeit, verliert keine Zeit. Es ist nutzlos, über die Weisheit nachzudenken. Wer seine eigene Natur kennt, kann sie spontan zeigen. Er verliert sie keine Sekunde aus den Augen, selbst wenn er mitten im Kriegsgetümmel stehen sollte.›» 

In Wirklichkeit haben alle Fragen der Welt mit Leben und Tod zu tun. Im Unglück sind wir verwirrt, weil wir Unglück mit Verlust und Tod gleichsetzen; wenn wir auf der Strasse eine Münze finden, sind wir entzückt, weil Geld für uns Glück und Leben bedeutet. Auch gerade jetzt, während wir darüber reden, neigt sich unser Leben seinem Ende zu. Wenn dann der letzte Moment kommt, gibt es keine Zeit mehr, über Leben und Tod nachzudenken.

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Mit den Gleichgültigen über Leben und Tod zu sprechen, ist natürlich sinnlos. Doch für diejenigen, in denen die Weisheit erwacht ist, ist diese Frage sehr wichtig. Ihre eigene Weisheit wird es nicht zulassen, dass sie in Unwissenheit sterben. Es ist wie beim Magen: Wenn man versucht, durch Fasten zu sterben, lässt der Magen dies nicht ohne weiteres zu. Er wehrt sich solange, bis man ihm Nahrung zuführt. Dasselbe gilt für das Gehirn. Vielleicht esst ihr absichtlich wenig, um euer Körpergewicht zu reduzieren, doch es ist nicht gut, auch im Gehirn abzunehmen. Der Magen kommt natürlich zuerst, aber wenn ihr eurem Gehirn keine geistige Nahrung zuführt, verkümmert es. Es kommt in den Zustand eines Pretas.

Ein Preta ist unersättlich. Ein Mensch in diesem Zustand hat einen ganz bestimmten hungrigen Blick, und seine Worte geben das hungrige Ungeheuer in ihm preis. Auch wenn er erhobenen Hauptes und mit einer dicken Zigarre im Mund einhergeht, ist er trotzdem kein feiner Herr, und selbst wenn er viel Geld besitzt, ist er in meinen Augen arm. Denn er sucht keine Erlösung, keine Befreiung aus dem Ozean seines Leidens — Leben und Tod. Er wird in diesem Meer des Leidens enden wie ein Tier, dessen Kadaver entsorgt werden muss. …


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