Wahre Unabhängigkeit – „Brüder auf dem Weg, wer sich befreien will von den weltlichen Angelegenheiten muss den Weg erforschen. Ich, zum Beispiel, habe früher intensiv die buddhistischen Verhaltensregeln (Vinaya) studiert und tauchte tief in die Schriften (Sutras und Shastras) ein. Später erkannte ich, dass all dies bloss Rezepte gegen die weltlichen Sorgen waren und lauter wortreiche Darlegungen von Theorien. Ich gab sie alle auf und machte mich auf die Suche nach dem Weg.
So begann ich mit Meditation. Noch später begegnete ich grossen Lehrern. Schliesslich wurde mein Dharma-Auge klar, so dass ich alle alten Lehrer unter dem Himmel verstehen und das Falsche vom Wahren unterscheiden konnte. Diese Verstehen hatte ich nicht, als ich von meiner Mutter geboren wurde. Aber nach einer Zeit grosser Selbstdisziplin und intensiver Selbsterforschung erkannte ich plötzlich klar und deutlich, wer ich bin.“
Bevor Lin-chi zum Zen kam, wusste er bereits sehr viel über die Lehre des Buddhismus. Er wusste, was sich in ihm selbst und was sich bei manchen blinden Lehrern seiner Zeit abspielte. So kam er zur Erkenntnis, dass es, um tiefe Einsicht in das Wesen des Lebens zu bekommen, nicht genügt, den gegebenen religiösen Gepflogenheiten zu folgen, wie die meisten Menschen es tun.
Man muss sich darum bemühen, die universale, nicht persönliche Sicht zu erlangen und sowohl den Körper als auch den Geist durch und durch zu kennen. Nur so kann echte Religion bzw. echte Geistigkeit verwirklicht werden. Dies versuchte Lin-chi hier zu vermitteln.
Es ist ein grosser Unterschied, ob man sich wirklich um die universale Sicht bemüht oder ob man einfach in Abgeschiedenheit sitzt und trotzdem alles mögliche Gedankenmaterial in sich aufbewahrt. Sich bloss von der Welt abzuschotten, ist keine wirkliche Loslösung von der Welt. Es gilt, sich mitten im Leben von der Welt zu lösen.
Wichtig ist bloss, dass man einen Ort hat, wo man meditieren und studieren kann. Das muss nicht unbedingt ein Kloster oder eine einsamen Höhle sein. Ohne das eigene Forschen, ohne den Einsatz des eigenen Körpers und des eigenen Geistes geht es nicht – man kann die Wahrheit nirgendwo kaufen.
„Nach einer Zeit grosser Selbstdisziplin und intensiver Selbsterforschung erkannte ich plötzlich klar und deutlich, wer ich bin.“ Was ist es, was man plötzlich klar und deutlich sehen kann? Es ist das Gesicht des Kindes der allgegenwärtigen, universalen Mutter!
„Ich habe früher intensiv die buddhistischen Verhaltensregeln (Vinaya) studiert und tauchte tief in die Schriften (Sutras und Shastras) ein“. Sie Schriftensammlungen namens Vinaya, Sutras und Shastras sind das Grundgerüst der buddhistischen Lehre. Vinaya beinhaltet die Regeln und Gebote für das korrekte Leben der Mönche und Nonnen. In buddhistischen Klöstern ist alles genau geregelt, vom zeitlichen Ablauf bis zur Art und Weise der Verbeugungen. Die Sutras und Shastras lehren die Meditationspraxis und das Verstehen von Buddhas Lebensführung und Lehre.
„Brüder auf dem Weg, wenn ihr echtes Verstehen des Dharma zu erlangen sucht, lasst euch nicht von anderen irreführen. Was auch immer euch innen oder aussen entgegentritt, tötet es, sobald ihr es seht. Wenn ihr dem Buddha begegnet, tötet den Buddha! Wenn ihr einem Patriarchen begegnet, tötet den Patriarchen! Wenn ihr einem Heiligen begegnet, tötet den Heiligen!
Wenn ihr eurem Vater oder eurer Mutter begegnet, tötet Vater und Mutter! Wenn ihr euren Verwandten begegnet, tötet eure Verwandten! So erlangt ihr Freiheit. Wenn ihr an nichts gebunden seid, könnt ihr ohne Hindernis voranschreiten.“
Nicht auf andere zu hören, besonders wenn sie über ihre eigene Erleuchtung reden, ist der Weisheit letzter Schluss! Schaut nicht auf den Buddha oder Bodhidharma oder einen Lehrer, um eure Lebensprobleme zu lösen. Schafft eure eigene Lösung! Dieser Körper, dieser Geist enthält alles, was ihr dazu braucht!
„Was auch immer euch innen oder aussen entgegentritt, tötet es, sobald ihr es seht.“ Lin-chi gebraucht ein starkes Wort hier – töten! Normalerweise sagt man „vernichte“ oder „zerstöre“ oder „schneide ab“, aber Lin-chi benutzt eine grosse Axt. Natürlich sagt er nicht, man solle Gedanken oder Menschen töten. Es ist nicht der Gedankenfluss, der einen von der Wahrheit abhält; es sind die Konzepte, an denen man festhält, die einen daran hindern, mit dem Fluss des Lebens mitzufliessen.
Es sind die leeren Begriffe und blossen Vorstellungen, die zu töten Lin-chi uns auffordert. Wir alle gleichen Wanderern im Wald, die von Spinngewebe umwickelt sind. Man muss diese Gewebe durchtrennen.
„Unter den Schülern, die aus allen Richtungen zu mir kommen, war bisher kein einziger, der von nichts abhängig war. Deshalb haue ich von allem Anfang an auf alles, was ihr benutzt. Wenn jemand abhängig ist von den Händen, haue ich auf die Hände. Ist er abhängig vom Mund, haue ich auf den Mund. Ist er abhängig von den Augen, haue ich auf die Augen. Noch niemand ist in absoluter Freiheit vor mich getreten. Alle brachten die nutzlosen Hilfsmittel der Alten!
Was diesen Bergmönch anbetrifft: Ich habe euch überhaupt nichts zu geben. Das Einzige, was ich tun kann, ist seelische Krankheiten heilen und konzeptuelle Fesseln durchtrennen. Versucht zu mir zu kommen, ohne von etwas abhängig zu sein! Wenn ihr das tun würdet, würde ich diese Sache gerne gründlich reflektieren mit euch.
In den letzten fünf, zehn Jahren ist noch kein einziger freier Mensch aufgetreten. Alle klammern sich an Blätter und Grashalme, wie Geister im Bambus und in Bäumen. Sie sind nichts als wilde Füchse, die die Exkremente der alten Meister mampfen! Sie vergeuden ihre Gaben der grossen Natur und wähnen sich auf „dem spirituellen Weg“. Welch armseliges Verständnis!
Ich sage euch: Es gibt keinen Buddha, kein Dharma, keine Praxis und kein Erwachen. Was sucht ihr, wenn ihr so in der Gegend umherrennt? Blinde Narren! Ihr setzt einen Kopf auf den Kopf, den ihr bereits habt. Gibt es irgendetwas, das euch fehlt?
Euer gegenwärtiges Dasein ist nicht anders als das vom Buddha und den Patriarchen. Weil ihr dies nicht glaubt, sucht ihr in der äusseren Welt. Macht keinen Fehler. Es gibt kein Dharma in der äusseren Welt.
Auch gibt es nichts Inneres zu erreichen. Besser als blind den Worten aus meinem Mund zu glauben, ist es, alle mentale Anstrengung aufzugeben und im klaren Gewahrsein zu ruhen. Das, was an Gedanken und Meinungen bereits entstanden ist, führt nicht weiter, und was noch nicht entstanden ist, lasst in Ruhe. Das ist nützlicher als eine zehnjährige Pilgerreise.“
Lin-chi hatte im Laufe seiner Funktion als Abt zu zahlreichen Schülern aus ganz China gesprochen, aber keinen vorgefunden, der mit einem vollkommen offenen Geist, abhängig von nichts, vor ihn trat. Alle beriefen sich auf irgendwelche Texte, Dogmen oder Philosophien. Lin-chi‘s Buddhismus ist aber nicht philosophisch; es ist Zen. Zen lehnt Philosophie nicht grundsätzlich ab, im Gegenteil, es schliesst sie ein.
Das Denken wird benutzt, bis es nicht mehr weitergeht. Dort, wo der Verstand endet, steht das Tor zum Zen. In der Anwendung von Zen lassen wir das Vernunftdenken beiseite und wenden uns direkt an die Essenz. Um in diesen Zustand zu kommen, braucht es eine Richtung – Buddhismus oder Christentum oder Hinduismus – aber wenn es darauf ankommt, steht jede Lehre dem direkten Erleben im Weg. Zen ist das eigene Leben.
Wenn man von etwas abhängig ist, wird man davon beherrscht. Deshalb sagt Lin-chi, er haue seinen Schülern sämtliche Hilfsmittel aus der Hand. Er will sogar mit dem Buddha und dem Buddhismus nichts zu tun haben. Denn wenn man sich ein Gesetz schafft, kann man nicht natürlich handeln. Wenn man rational argumentiert und urteilt, kann man nicht aus sich selbst heraus denken und handeln, sondern ist immer von einer Voraussetzung abhängig.
Lin-chi offerierte jedem, der zu ihm kam, die Möglichkeit, frei zu werden von seiner spezifischen Abhängigkeit. Das war seine Art, im Buddhismus zu leben. Sein Buddhismus war eine wahre und natürliche innere Haltung.
Zen-Meister halten immer Ausschau nach jemandem mit einem unabhängigen Geist und wahrem Verstehen. Nur dann kann es eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht gerben, von Herz zu Herz. Alle Patriarchen haben das Dharma auf diese Weise erhalten, manchmal genügte dafür ein einziger Augenblick.
Beim ersten Patriarchen, Māhākashyapa, geschah es, als er als Einziger den Buddha verstand, der, mitten in seiner Jüngerschar sitzend, eine Blume in der Hand hielt und schwieg. Der Buddha sagte zu ihm: „Bewahre die Flamme meines wahren Dharma.
Lass sie nicht verlöschen.“ Damit begann die Weitergabe des Buddhismus, der selbst von Buddha nie in theoretischen Worten dargelegt wurde. Bis in die heutige Zeit haben Fackelträger für seine Verbreitung gesorgt. Heutzutage gibt es verschiedene Zweige des Zen, und die Lichtstärke der Flamme ist nicht immer gleich. Aber es ist immer das Licht von Shakyamuni Buddha selbst. Es kann nicht mit Worten weitergereicht werden, sondern nur von Herz zu Herz, von Seele zu Seele, von Angesicht zu Angesicht.
Fast alle suchen nach etwas, mit dem sie ihren Geist füllen können, aber das ist etwas ganz anderes, als nach dem Geist selbst zu suchen. Wie kann man mit dem Geist nach dem Geist suchen? Der Geist, der nach dem Geist sucht, ist der Geist selbst.
„Es gibt kein Dharma in der äusseren Welt. Auch gibt es nichts Inneres zu erreichen.“ In der Aussenwelt gibt es nichts anderes als die Landschaft und die Häuser der Ortschaft, in der man lebt. Aber das sind nur die Abbildungen im eigenen Geist. Das universale Bewusstsein trifft auf die Objekte der Aussenwelt und schafft sich seine eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken. Das Innen und Aussen bilden zusammen die eine Wirklichkeit!
In der philosophischen Analyse der sichtbaren Dinge unterscheidet man zwischen den materiellen Objekten und der geistigen Sinneswahrnehmungen. Daraus entspringt die Formel von der „Einheit von Materie und Geist“. Aber ich meine, dass dies die Wurzel eines tiefen Missverstehens ist. Aus irgendeinem Grund kann man es nicht lassen, alles in subjektiv und objektiv bzw. materiell und geistig zu unterteilen.
Aber es gibt nichts „rein Geistiges, das man beobachten und benennen könnte. Lasst diese Unterscheidungen fallen und erfasst den Geist unabhängig von den ständig wechselnden Inhalten! Dieser Geist ist nicht zerstörbar durch den Tod.
„Besser als blind den Worten aus meinem Mund zu glauben, ist es, alle Anstrengung aufzugeben und nichts zu tun.“ Kümmert euch nicht um Worte und Vorstellungen. Es gibt die Landschaft aussen und die simultane Wahrnehmung innen – das ist alles.
„Das, was an Gedanken und Meinungen bereits entstanden ist, führt nicht weiter, und was noch nicht entstanden ist, lasst in Ruhe.“ Mit diesem einen Satz fasst Lin-chi die ganze Zen-Lehre zusammen. Wenn ihr die Bilder und Worte, die in eurem Geist bereits entstanden sind, aufgebt, könnt ihr den klaren blauen Himmel des Geistes sehen.
Ein Mensch, der das Wesen des Buddhismus in sich erfasst, lebt in vollkommener Einfachheit. Sein Verstehen ist so fundamental und tief, dass es nicht nötig ist, es zu demonstrieren. Sein Leben unterscheidet sich nicht von dem anderer Menschen auf der Strasse. Es ist schwer, so jemanden zu finden. Vielleicht geht man an ihm vorbei in einem Garten, wo er mit grosser Sorgfalt die Blumen pflegt. Sein tägliches Leben ist seine Religion.
Es gibt nichts mehr darüber zu sagen. Vielleicht hat er zwanzig, vierzig Jahre lang Buddhismus studiert und im hohen Alter sieht er aus wie ein Bauer, aber er ist ein lebendiger Tiger für jeden, der das Auge dafür hat.
„So wie ich das sehe, gibt es nichts zu erkämpfen. Seid einfach ganz gewöhnlich. Zieht eure Kleider an, esst eure Speisen und verbringt eure Zeit in Frieden. Ihr seid aus allen Richtungen gekommen und erwartet etwas. Ihr sucht den Buddha, das Dharma, Befreiung und wollt aus den drei Welten fliehen. Wie töricht! Wo wollt ihr hingehen, wenn ihr den drei Welten entkommen seid? „Buddha‟ und „Patriarch‟ sind nichts weiter als Titel der Bewunderung. Wollt ihr wissen, was die drei Welten sind? Sie bilden den Boden eures gegenwärtigen Geistes, der meinen Worten zuhört!
Der Durst, der euch antreibt, ist die Welt des Begehrens. Der Zorn, der euch entflammt, ist die Welt der Formen. Und die Ignoranz, die euch von eurer innewohnenden Weisheit fernhält, ist die formlose Welt. Diese Welten gehören zur Ausstattung eures eigenen Hauses. Die drei Welten nennen sich selbst nicht „die drei Welten“. Aber ihr, Brüder auf dem Weg, die ihr gerade jetzt alle Dinge eindringlich beleuchtet und die Welt beurteilt, ihr seid es, die diese Namen gebt.“
„So wie ich das sehe, gibt es nichts zu erkämpfen. Seid einfach ganz gewöhnlich. Zieht eure Kleider an, esst eure Speisen und verbringt eure Zeit in Frieden.“ Kalamitäten passieren, aber der Geist bleibt in Frieden. Alle Geschehnisse nehmen ihren Lauf, aber im wesentlichen Geist sind sie durchschaubar. Das Vergängliche kann dem Geist nichts anhaben. Heutzutage ist unser Leben allerdings äusserst kompliziert und wir finden den zeitlosen Frieden des Geistes kaum noch. Wie können wir den meditativen Geist zurückgewinnen?
„Ihr sucht den Buddha, das Dharma, Befreiung und wollt aus den drei Welten fliehen. Wie töricht!“ Oft ist es ein „Ismus“, der den Geist verwirrt – eine philosophische oder religiöse Idee. Die „drei Welten“ sind natürlich unsere aktuelle Welt mit allen ihren Aspekten. Hier leben wir. Könnt ihr euch etwas ausserhalb davon vorstellen? Es gilt, in dieser vergänglichen Sinneswelt die wirkliche Welt zu finden. Viele versuchen zu diesem Zweck die Geistesinhalte wegzuwaschen.
Sie meinen, sie müssten ihre Gedanken und Gefühle stoppen. Aber wie sollte das geschehen? Man schwimmt darin und kann sie gleichzeitig durchschauen. Ich werfe meiner Angelrute ins Wasser und kümmere mich nicht darum, wie die Wellen darauf reagieren. Die Wellen ziehen die Schnur hin und her, aber die Angelrute bleibt da. Man sieht den unveränderlichen und den veränderlichen Aspekt gleichzeitig. Wie es im Herz-Sutra heisst: Form ist Leere und Leere ist Form. Erscheinung ist Wirklichkeit, Wirklichkeit ist Erscheinung.
„Die drei Welten bilden den Boden eures gegenwärtigen Geistes, der meinen Worten zuhört.“ Was Lin-chi den „Boden des gegenwärtigen Geistes“ nennt, ist etwas nicht der mit Absicht erzeugte „entleerte Geist“. Dieser ist noch persönlich gefärbt, jener ist das urspüngliche, angborene und nichtpersönliche Wesen, er gehört zur Grossen Natur. Der Geist ohne Inhalte ist die transzendentale Welt. Sie ist sehr nahe. Lin-chi sagt, es sei nicht nötig, diesen Boden, die transzendente Welt, mit Hilfe der Meditation zu finden. Im Essen und Schlafen kann man dort sein. Tretet in sie ein! Wenn euer Geist rein, ehrlich und der Sache hingegeben ist, seid ihr dort, aber wenn ihr zweifelt und zögert, bleibt es eine Vorstellung und wird zur Bürde.
„Der Durst, der euch antreibt, ist die Welt des Begehrens. Der Zorn, der euch entflammt, ist die Welt der Formen. Und die Ignoranz, die euch von eurer innewohnenden Weisheit fernhält, ist die formlose Welt.“ Hier verbindet Lin-chi die buddhistische Doktrin von den sogenannten drei Giften – Verlangen, Zorn, Unwissenheit – mit der Doktrin von den drei Welten bzw. Sphären (Triloka), die den menschlichen Erfahrungsbereich ausmachen. Die Welt des Begehrens (Kāmadhātu) ist gekennzeichnet durch das menschliche Verlangen und Streben.
Die Welt der Formen (Rūpadhātu) ist gekennzeichnet durch die Wahrnehmung der Formen, ohne sie zu begehren. Und die formlose Welt (Arūpadhātu) ist die Sphäre des reinen Geistes. Nichts bedeckt den nackten Geist – kein Sehen, kein Schmecken, kein Fühlen, kein Denken, kein Objekt, kein Subjekt. Das ist jetzt zwar schrecklich philosophisch, aber es ist so, dass unser gewöhnlicher Geist immer in irgendwelche Hüllen gekleidet ist. Wenn man jedoch zum unverhüllten Geist erwacht, dann weiss man, wovon der Buddha sprach.
„Durst“ bedeutet im Buddhismus das unerschöpfliche Verlangen, den eigenen Körper zu bewahren, zu schützen und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist eine unbewusste Kraft, die einen das ganze Leben lang antreibt. Zorn ist die Energie, die einen veranlasst, mit anderen zu wetteifern, sie zu besiegen, überlegen zu sein, stärker oder berühmter. Das sind alles triebhafte Elemente. Auch Ignoranz ist eine unbewusste Kraft. Sie treibt uns an zu lernen, zu arbeiten und danach zu streben, ein besseres Leben zu haben. Man heilt sich selbst von der Unbewusstheit durch das Streben nach mehr Bewusstheit.
Diese Triebkräfte gehören zur menschlichen Natur. Es ist eine fundamentale Idee im Buddhismus, dass man durch Introspektion und direktes Erleben erkennen kann, dass die triebhaften Emotionen und die damit verbundenen Gemütszustände vollkommen ich-los sind. Wenn man sie richtig zu handhaben weiss, führen sie zum Leben, wenn nicht, führen sie zum Tod. Lin-chi legt grossen Wert darauf, dass jeder einzelne Mensch erkennt, dass er der Schöpfer seiner Welt ist, wobei die Quelle dieser Schöpfung – der reine Geist – nicht damit identisch ist. Jeder Mensch ist seiner Existenz gewahr dank seines Bewusstseins. Und alles, was man wahrnimmt, wird vom Bewusstsein geformt, also sind alle Erscheinungsformen Produkte des eigenen Bewusstseins.
„Verehrte Brüder, der sichtbare, aus den vier Elementen bestehende Körper ist vergänglich. Die Milz, der Magen, die Leber, die Gallenblase, die Haare, Nägel und Zähne sind alle Manifestationen der fundamentalen Leere. Der Zustand, in dem euer denkender Geist vollkommen zur Ruhe kommen kann, wird ‘Baum der Weisheit‘ (Bodhibaum) genannt; der Zustand, in dem der denkende Geist keine Ruhe findet, heisst ‚Baum der Unwissenheit‘.
Unwissenheit hat keinen Standort, deshalb hat sie weder Anfang noch Ende. Wenn der denkende Geist nicht aufhören kann, aktiv zu sein, dann befindet man sich quasi auf dem Baum der Unwissenheit und klettert in den sechs Bereichen der Existenz und den vier Arten von Geburt umher, trägt Fell am Körper und Hörner auf dem Kopf. WennDer denkende Geist, der zur Ruhe kommt, lässt das reine Sein zum Vorschein kommen. Dieser Zustand ist voller Freude, Stille und Licht.
„Der Zustand, in dem euer denkender Geist vollkommen zur Ruhe kommen kann, wird ‚Baum der Weisheit‘ (Bodhibaum) genannt.“ Der Buddha erlebte Erleuchtung unter einem Bodhibaum. Als er den Morgenstern erblickte, leuchtete dieser in seinem Geist auf, der sich so weit ausdehnte, dass er Himmel und Erde umfing. Wenn der Geist schläft, erfasst er diese Weite nicht.
Nur wenn kein einziges Konzept im Weg steht, ist es möglich. Solange man Ideen wie Ewigkeit, Gott, Buddha, Zen über den Geist stülpt, wird man nie entdecken, wer man ist. Der Bodhibaum ist also ein Symbol für die erwachte Sicht. Der Buddha sagte: „Wenn man seine eigene Natur entdeckt, leuchtet die ganze Welt“ Das ist das Ende der selbstzentrierten Geistesaktivität. Habt keine Angst, verrückt zu werden. Versucht es!
„Der Zustand, in dem der denkende Geist keine Ruhe findet, wird ‚Baum der Unwissenheit‘ genannt.“ Man kann seine Meinungen, seinen Glauben viele Male ändern; man mag die Augen in der Meditation schliessen, um sich vor dieser schmutzigen Welt zu verstecken, aber wie kann man sich den Konzepten verschliessen?
Der Bodhibaum ist der innerste Mensch, der keine Wurzeln hat und sich in das ganze Universum ausdehnt. Der Baum der Unwissenheit hat eine Wurzel – sie liegt in der Dunkelheit – und wir leben darauf. Man kann dies leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Im Embryonalzustand im Mutterleib wusste man nichts von Zeit oder Raum, von süss oder bitter, von der Mutter oder von sich selbst. Es gibt keine Erinnerung, aber man hat dort existiert.
Man kann nicht sagen, dass es einen nicht gab; was es nicht gab, war das Bewusstsein der eigenen Existenz. Dann begann man sich zu bewegen und damit begann die Entwicklung der Wahrnehmung in Zeit und Raum. Der elementare Zustand des Säugling besteht aus den Überlebensimpulsen (Skrt. Samskara), dann kommt das Bewusstsein (Skrt. Vijñāna) und stellt den Kontakt her zu Welt. Diese ganze unbewusste Existenz heisst im Buddhismus Unwissenheit (Skrt. Avidyā).
Das Denken kann den Eingang zur Wirklichkeit nicht offen. Es kann nur zu dessen Schwelle führen. Man muss von dieser Schwelle aus in die Wirklichkeit hineinspringen. In diesem Augenblick wird der Geist klar! Das ist die geistige Wandlung, die jederzeit stattfinden kann. Subjektive Realität und objektive Realität sind nicht zwei. Der physische Körper bleibt erhalten, aber der Geist nimmt viele verschiedene Formen an, allerdings ohne den einen allgegenwärtigen geistigen Körper zu verlassen. Das ist das Leben im Bodhibaum.
„Weisheit(Bodhi) hat keinenStandort, deshalb ist sie nicht zue rlangen.“ Eine Radiosendung kann die ganze Welt erreichen, ist aber an keinem Ort fassbar. Macht euch keine Vorstellungen von „Erlangen“ oder Nicht-Erlangen“. Wenn man „drin“ ist, kann man kein Wort sagen. Das Problem ist bloss, wie hineinzukommen ist.
„Brüder, was gibt es für einen entschlossenen Menschen auf dem Weg noch zu bezweifeln? Einer der Alten sagte: Der Geist wandelt sich entsprechend den unzählbaren Umständen, und diese Wandlung ist wahrhaft mysteriös. Wenn du deine Natur in ihrem Fluss erkennst, dann gibt es weder Freude noch Sorge.“
Der „Alte“ ist vermutlich der 22. indische Patriarch Manorhita (jap. Manura))
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