Wegbeleuchtung Juni 2022
«Die meisten von uns wollen beschäftigt sein. Andernfalls fühlen wir uns verloren, wissen nicht, was wir tun sollen, sind einsam und werden mit dem konfrontiert, was wir eigentlich sind.» –j.K.
Achtsamkeit
Wenn man sich seiner Voreingenommenheit, seiner Bedingtheit bewusst wird, öffnet sich der ganze Raum des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist der gesamte Raum, in dem sich das Denken abspielt und unsere Beziehungen ihren Bestand haben. Alle Motive, Absichten, Wünsche, Vergnügungen, Ängste, Eingebungen, Sehnsüchte, Hoffnungen, Sorgen, Freuden sind in diesem Raum vorhanden.
Aber wir haben dieses Bewußtsein in ein aktives und ein ruhendes Bewußtsein, in eine obere und eine untere Ebene eingeteilt, d.h. alle Gedanken, Gefühle und Handlungen des Tages liegen an der Oberfläche, und darunter liegt das sogenannte Unterbewußtsein, das, was wir nicht kennen, was sich gelegentlich durch bestimmte Zeichen, Eingebungen und Träume äußert.
Im Allgemeinen beschäftigen wir uns nur mit einem kleinen Winkel des Bewusstseins, der den größten Teil unseres Lebens ausmacht.
Wie wir in die anderen Schichten eindringen können, die wir das Unterbewußtsein nennen, mit all seinen Motiven, seinen Ängsten, seinen rassischen und erblichen Eigenschaften – davon haben wir keine Ahnung.
Nun frage ich Sie: Gibt es überhaupt so etwas wie das Unbewusste?
Wir verwenden dieses Wort ziemlich unreflektiert. Wir haben uns damit abgefunden, dass es so etwas gibt, und die Schlagworte und Fachausdrücke der Analytiker und Psychologen sind in unsere Sprache eingesickert.
Aber gibt es so etwas?
Und warum messen wir ihm eine so große Bedeutung bei?
Mir scheint, das Unbewusste ist genauso trivial und stumpfsinnig wie das Bewusste – genauso engstirnig, blindgläubig, voreingenommen, ängstlich und minderwertig.
Ist es nun möglich, das ganze Bewußtsein zu erfassen und nicht nur einen Teil, ein Fragment?
Wenn man in der Lage ist, das Ganze wahrzunehmen, dann lebt man in jedem Augenblick mit voller Aufmerksamkeit und nicht nur mit halber Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, das zu verstehen, denn wenn man sich des gesamten Bewusstseinsbereichs bewusst ist, gibt es keine Spannungen. Nur wenn man das Bewusstsein, zu dem alles Denken, Fühlen und Handeln gehört, in verschiedene Ebenen aufteilt, gibt es Unstimmigkeiten.
Wir leben in Fragmenten. Im Büro ist man ein anderer Mensch als zu Hause. Man spricht von Demokratie und ist im Herzen Autokrat. Sie sprechen von Nächstenliebe und zerstören sie im Konkurrenzkampf.
Ein Teil von Ihnen handelt und blickt unabhängig vom anderen Teil. Sind Sie sich dieser fragmentarischen Existenz bewusst?
Und ist es dem Verstand, der seine Funktionen, sein Denken zerstückelt hat, möglich, das Ganze des Bewußtseins wahrzunehmen?
Ist es möglich, das ganze Bewußtsein umfassend zu sehen, d.h. ein ganzer Mensch zu sein?
Wenn man bei dem Versuch, die Gesamtstruktur des Ichs, des Selbst mit all seinen außerordentlichen Verstrickungen zu verstehen, Schritt für Schritt vorgeht, Schicht um Schicht freilegt, jeden Gedanken, jedes Gefühl, jedes Motiv untersucht, wird man in einen analytischen Prozeß hineingezogen, der Wochen, Monate oder Jahre dauern kann; Und wenn Sie diesen Prozess der Selbsterkenntnis in die Zeit setzen, müssen Sie alle möglichen Veränderungen berücksichtigen, denn das Ich ist ein komplexes Gebilde, in ständiger Bewegung, lebendig, kämpfend, voller Wünsche, verneinend, mit Verdrängungen, Spannungen und Einflüssen aller Art, die ununterbrochen auf den Menschen einwirken.
Sie werden selbst entdecken, dass dies nicht der Weg ist. Sie werden begreifen, dass es nur einen Weg gibt: sich selbst in seiner Ganzheit zu sehen, unmittelbar, ohne Zwischenschaltung der Zeit. Sie können sich nur als Ganzes sehen, wenn Ihr Geist nicht gespalten ist. Was man dann sieht, ist die Wahrheit.
Nun, können Sie das?
Die meisten von uns können es nicht, weil wir uns nie ernsthaft mit dem Problem auseinandergesetzt haben, weil wir uns nie wirklich angeschaut haben. Niemals. Wir geben anderen die Schuld, wir erklären die Dinge oder wir haben Angst, hinzuschauen. Aber wenn Sie ohne Vorbehalt hinsehen, dann tun Sie es mit voller Aufmerksamkeit, mit Ihrem ganzen Sein, mit allem, was in Ihnen ist, mit Ihren Augen, Ihren Ohren, Ihren Nerven. Man ist mit ganzer Hingabe dabei, und dann ist kein Platz mehr für Angst, kein Platz mehr für Widerspruch, dann ist kein Konflikt mehr möglich.
Achtsamkeit ist nicht dasselbe wie Konzentration. Konzentration ist Ausschluss.
Achtsamkeit, die umfassende Bewusstheit ist, schließt nichts aus.
Mir scheint, dass die meisten von uns nicht nur das, worüber wir sprechen, nicht wahrnehmen, sondern auch die Umgebung, die Farben um uns herum, die Menschen, die Form der Bäume, die Wolken, den Fluss, der vorbeifließt.
Vielleicht liegt es daran, dass wir so sehr mit uns selbst beschäftigt sind, mit unseren unbedeutenden kleinen Problemen, unseren Gedanken, unseren Vergnügungen, unseren Plänen und unseren ehrgeizigen Zielen, dass wir nicht in der Lage sind, unvoreingenommen zu sehen. Und doch reden wir viel über Bewusstsein.
Ich war einmal in Indien mit dem Auto unterwegs. Ein Chauffeur fuhr, und ich saß neben ihm. Drei Herren unterhielten sich sehr angeregt über Bewusstsein und stellten mir Fragen dazu. In diesem Moment schaute der Fahrer unglücklicherweise woanders hin und überfuhr eine Ziege, und die drei Herren diskutierten immer noch über Bewußtsein. Sie hatten überhaupt nicht bemerkt, dass sie eine Ziege überfahren hatten. Als die Herren, die sich so eifrig um Achtsamkeit bemühten, auf diesen Mangel an Achtsamkeit aufmerksam gemacht wurden, waren sie sehr überrascht.
Und den meisten von uns geht es nicht anders. Wir nehmen weder die äußeren noch die inneren Dinge wahr. Wenn man die Schönheit eines Vogels, einer Fliege, eines Blattes sehen will, oder wenn man einen Menschen mit all seinen Schwierigkeiten verstehen will, dann muss man ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenken, die unmittelbare Bewusstheit ist. Und das kann man nur, wenn es einem wichtig ist, wenn es einem zutiefst wichtig ist, zu verstehen – dann gibt man Herz und Verstand hin.
Diese unmittelbare Präsenz hat man, wenn man eine Schlange im Zimmer hat. Man beobachtet jede ihrer Bewegungen, reagiert auf das leiseste Geräusch, das sie von sich gibt. Ein solcher Zustand der Aufmerksamkeit ist konzentrierte Energie. In diesem Bewusstsein reagiert Ihr ganzes Wesen augenblicklich.
Wenn man sich selbst so tief gesehen hat, kann man tiefer eindringen. Wenn wir das Wort »tiefer« verwenden, vergleichen wir nicht. Im Allgemeinen denken wir in Vergleichen: tief und flach, glücklich und unglücklich. Ständig urteilen und vergleichen wir. Aber gibt es in uns so etwas wie Oberflächlichkeit und Tiefe?
Wenn ich sage: »Mein Geist ist oberflächlich, unbedeutend, eng, begrenzt«, woher weiß ich das?
Weil ich meinen Geist mit dem eines anderen verglichen habe, der wacher und leistungsfähiger, intelligenter und wacher ist.
Kann ich meine Armut ohne Vergleich erkennen?
Wenn ich hungrig bin, vergleiche ich diesen Hunger nicht mit dem Hunger von gestern; der Hunger von gestern ist eine Vorstellung, eine Erinnerung.
Wenn ich mich ständig mit einem anderen vergleiche, wenn ich darum kämpfe, ihm gleich zu sein, dann verleugne ich das, was ich wirklich bin, und schaffe mir eine Illusion.
Wenn ich verstanden habe, dass Vergleiche jeder Art nur zu größerer Täuschung und zu größerem Elend führen – wie es zum Beispiel in der Analyse geschieht, in der ich Stück für Stück das Wissen über mich selbst anhäufe, oder wenn ich mich mit etwas anderem identifiziere, sei es mit dem Staat, mit einem Erlöser oder mit einer Ideologie -, wenn ich verstanden habe, dass all diese Prozesse nur zu größerer Anpassung und damit zu größerem Konflikt führen, wenn ich all das sehe, dann sage ich mich davon völlig los. Dann hört mein Verstand auf zu suchen.
Es ist sehr wichtig, das zu verstehen.
Dann hört mein Verstand auf zu tasten, zu suchen und zu fragen. Das heißt nicht, dass er mit den Dingen zufrieden ist, wie sie sind, aber er hat keine Illusionen mehr. Ein solcher Geist kann sich dann in einer ganz anderen Dimension bewegen.
Die Dimension, in der wir allgemein leben, das Alltagsleben mit seinen Schmerzen, Freuden und Ängsten, hat den Geist geformt, hat ihn eingeengt, und wenn diese Schmerzen, Freuden und Ängste verschwunden sind – was nicht heißt, dass man keine Freude mehr hat: Freude ist etwas ganz anderes als Vergnügen -, dann lebt der Mensch in einer anderen Dimension, in der es keinen Konflikt, kein Gefühl des Andersseins mehr gibt.
Mit Worten kommen wir nur bis hierher: Was dahinter liegt, kann nicht mit Worten ausgedrückt werden, weil das Wort nicht die Sache ist.
Bis hierher können wir beschreiben, erklären, aber keine Worte oder Erklärungen können die Tür öffnen.
Was die Tür öffnen wird, ist Bewusstsein und Achtsamkeit – sich bewusst zu sein, wie wir sprechen, was wir sagen, wie wir gehen, was wir denken.
Es ist, als ob wir ein Zimmer sauber machen und es in Ordnung halten. Einen Raum sauber zu halten ist in gewisser Hinsicht wichtig, aber in anderer Hinsicht völlig belanglos. In einem Raum muss Ordnung herrschen, aber Ordnung öffnet nicht die Tür oder das Fenster.
Nicht der Wunsch oder der Wille kann die Tür öffnen. Man kann den anderen nicht einladen. Alles, was Sie tun können, ist, den Raum sauber zu machen.
Wenn Sie Glück haben, öffnet sich das Fenster und ein leichter Wind weht herein. Oder vielleicht auch nicht! Alles hängt vom Zustand Ihres Geistes ab.
Und diesen Zustand können Sie nur selbst erkennen, indem Sie ihm zuhören und niemals versuchen, ihn zu formen, niemals Partei ergreifen, niemals widersprechen, niemals zustimmen, niemals rechtfertigen, niemals verdammen, niemals urteilen; das heißt, ihn ohne wertende Unterscheidung betrachten.
Und in diesem wertfreien Gewahrsein kann sich vielleicht die Tür öffnen und man wird jene Dimension erkennen, in der es keinen Konflikt und keine Zeit gibt.