Vimalakirti Sutra 5.3

Das Wesen der Krankheit

Vimalakirti Sutra 5.3 – Wir haben bisher gehört, wie Vimalakirti erklärte, seine Krankheit komme von der menschlichen Unwissenheit über die Wirklichkeit und dem unrealistischen Verlangen nach einer Existenz, in der das Schöne, Angenehme, Freudvolle und alles Glück, was das Leben zu bieten hat, festgehalten und genossen werden kann. Diese Unwissenheit und dieser Durst machen uns blind für das, was wirklich ist.

Diese Krankheit werde solange dauern, sagt Vimalakirti, wie die Menschheit an ihren unrealistischen Konzepten festhält.

Wir haben uns dann gefragt, inwiefern wir diese Krankheit ins uns selber feststellen können, wenn wir zum Beispiel unsere eigenen Sorgen und Ängste einmal ernsthaft ins Visier nehmen. Das habt ihr gestern, jeder für sich selbst, getan. Hier sind einige eurer Beobachtungen:

Häufige Krankheitssymptome:

Angst vor Besitzverlust: Sobald wir etwas besitzen – sei es materiell oder mental – , fürchten wir, es zu verlieren.

Trauer: Wenn wir etwas verloren haben – ein materielles oder geistiges Gut –, sind wir wütend, verzweifelt oder untröstlich.

Angst vor Mangel: Wenn wir etwas nicht haben oder bekommen, das uns wichtig, lieb und erstrebenswert ist – dazu gehören auch emotionale Güter wie Anerkennung, Liebe, Bestätigung –, dann sind wir zutiefst unglücklich.

Nutzlose Anstrengung: Wenn wir etwas nicht haben oder nicht bekommen, das uns wichtig, lieb und erstrebenswert scheint, kämpfen wir vielleicht ein Leben lang darum, es doch noch zu bekommen und zu haben. Und verpassen dabei das Schöne und Gute, das uns das Leben schenkt.

Existenzangst: Wenn unsere körperliche oder geistige Gesundheit angeschlagen, bedroht oder gar am Schwinden begriffen ist, dann fürchten wir uns vor Schmerzen, Verfall und Tod, selbst wenn diese noch gar nicht akut sind. Wir nehmen das Leiden vorweg und leiden sozusagen auf Vorrat. Um dann, wenn es soweit ist, doppelt zu leiden, weil wir unsere Ängste bestätigt finden.

Angst vor Kontrollverlust: Dies ist vielleicht die subtilste und heimtückischste aller Ängste. Warum? Weil sie direkt an den Wurzeln des illusionären Ichs ansetzt: Wenn ich das Leben oder mich selbst nicht kontrollieren kann, dann … ja, was dann? Hat das Leben dann überhaupt noch einen Sinn? Dabei merken wir nicht, dass wir prinzipiell nichts kontrollieren können.

Formlos und unsichtbar

Nachdem Vimalakirti Manjushri – und uns – erklärt hat, dass die Ursachen seiner Krankheit im Denken der Menschheit und nicht in ihrer Wesensnatur zu suchen sind, fragt Manjushri weiter:

Ich denke, wir können nun sehr gut verstehen, dass wir alle von der einen oder anderen Form von dieser Krankheit befallen sind.

Wenn in einem Gespräch, sei es in einer Beratungsstunde oder im Dokusan, ein akutes Leiden angesprochen wird, wie Angst, Sorgen, Unsicherheit, Wut, Unzufriedenheit usw., und ich frage die betroffene Person, was das genau sei, was sie Angst oder Unsicherheit nennt, dann erhalte ich meist eine Antwort wie: «Das ist eine gute Frage», oder, nach einem mehr oder weniger langen Schweigen: «Das kann ich nicht sagen», oder: «Ich weiss nicht.“

Manjushri: «Welche Form nimmt die Krankheit des ehrwürdigen Hausherrn an?»

Vimalakirti: «Meine Krankheit ist formlos und unsichtbar.»

Dies erinnert mich jeweils an die überlieferte Anekdote von Bodhidharma und Huik’o. Letzterer beschäftigte sich ernsthaft mit der der Frage nach dem Sinn des Lebens, konnte aber nie eine befriedigende Antwort finden. Als er hörte, dass ein indischer Heiliger ins Land (China) gekommen sei, der in einer Höhle meditiere und einen neuen Weg zum Erlangen von innerem Frieden zeige, machte er sich unverzüglich auf, um diesen kennenzulernen.

Bodhidharma prüfte die Ernsthaftigkeit des Ankömmlings, indem er ihn ignorierte und zuerst vor seiner Höhle warten liess. Was Huik’o tat, und zwar Tag und Nacht. Schliesslich trat Bodhidharma heraus und fragte ihn, was er wolle. Huik’o sagte: «Meine Seele ist so unruhig; ich kann keinen Frieden finden. Bitte helfen Sie mir.» Bodhidharma antwortete: «Bring mir deine Seele und ich werde sie beruhigen», und kehrte in seine Höhle zurück.

Als Huik’o nach einiger Zeit wieder vor der Höhle auftauchte, fragte ihn Bodhidharma: «Nun, hast du deine Seele mitgebracht?» Huik’o antwortete: «Nein, ich konnte sie nirgends finden.» Darauf sagte Bodhidharma: «Siehst du, ich habe sie schon beruhigt.» Und so war es. Fortan lebte Huik’o in Frieden. Was nicht heisst, dass es in seinem Leben keine Schwierigkeiten und kein Leid mehr gab. (Siehe Der Rote Faden des Dharma)

Bodhidharma hatte natürlich gar nichts getan. Aber Huik’o hatte dessen Fingerzeig aufgenommen. Er suchte seine Seele – der vermeintliche Sitz seiner Unruhe – in der meditativen Innenschau so ernsthaft, bis er ans Ende seines Denkens und Suchens gelangte und erkannte, dass er einem Phantom nachgejagt war.

Den Teufel an die Wand malen

Was Huik’o erlebt hat, nämlich dass es keine konkrete Seele gibt, kein Subjekt das leidet, das könnten wir alle auch erleben, wenn wir ebenso ernsthaft und ausdauernd die Wurzeln unserer Ängsten und Sorgen freilegen würden. Das kann man aber nicht tun, wenn man wie ein Kind die formlosen Gespenster im Nebel des eigenen Bewusstseins aus lauter Unverständnis für real hält und fürchtet. Denn wenn man einen Teufel an die Wand des Lebensraumes malt, wird man ihn mit Sicherheit dort finden.

So drücken wir uns In der Regel davor, unsere Leiden bis an ihre Wurzeln zu untersuchen. Wir verbleiben lieber in den immer gleichen Vorstellungen von einer heilen Welt. Wenn sich diese Vorstellungen nicht erfüllen oder wir ihnen trotz Anstrengungen und Kampf nicht gerecht werden können, dann werden wir krank, psychisch oder physisch oder beides.

Die Zweiteilung von Ich und Krankheit

Da man das wahre Wesen des Leidens nicht versteht, betrachtet es man wie ein Objekt; man spaltet sich davon ab und macht sich selbst zum Opfer: Ich habe eine Krankheit oder ich habe ein Leiden. Ich und die Krankheit sind zwei verschiedene Dinge. Der Teufel hat einen fest im Griff.

Diese Denkweise ist in unserer Gesellschaft nicht nur Gang und Gäbe, sondern sie wird aktiv unterstützt und zementiert. Wenn man krank ist oder in Trauer, reisst man sich zusammen, ignoriert die Symptome oder leugnet sie. Krankheiten sind zu bekämpfen, zu besiegen, zu überwinden, und wenn dies nicht gelingt, dann hat man in den eigenen und/oder fremden Augen versagt. Krankheit und Leiden werden zu einer Schwäche des Ichs, für die man sich schämt oder sich zu mindest nichts anmerken lässt. Diese Selbstverleugnung kann bis zum Selbsthass gehen. – Man hasst sich selbst wegen der Gefühle, die man hat, und spricht gar von einem «inneren Schweinehund». Das ist wohl das deutlichste Symptom einer krankhaften Sicht des wahrhaftigen Lebens und der eigenen Wesensnatur.

Es gibt unzählige gut gemeinte Ratgeber über den «richtigen und heilsamen Umgang mit dem eigenen Ich». Man soll sein Ich heilen, lieben, ignorieren, überwinden und so weiter. Einige meinen gar, man müsse sein Ego töten. Das ist der Versuch den Teufel (Ego) mit dem Beelzebub (Ich) auszutreiben.

Alle diese Ansichten basieren auf der Vorstellung von einem Subjekt namens Ich und einem Objekt namens Krankheit. Ihre Heilungsvorschläge zielen auf die permanente Veränderung des Ichs und provozieren damit eine weitere Spaltung. Denn nun gibt es ein Ich, das sein Ich verändern will.

Erster Heilungsschritt

Tatsache ist: Man muss und kann kein Ego, kein Ich, loswerden oder überwinden. Das, was man tun sollte und kann, ist sich von der Vorstellung und dem Glauben an die Idee einer Instanz namens Ich oder Ego loszusagen. Man tut dies, indem man einen völlig anderen Standpunkt einnimmt: Statt sich der Autorität dieser vermeintlichen Instanz zu unterwerfen, sie zu fürchten oder zu hassen, stellt man sie entschlossen in Frage und legt ihre Wurzeln frei.

Das ist der Sinn und Zweck von Vimalakirtis öffentlichen Bekanntmachung seiner Krankheit. Er schaffte sich damit eine Plattform, um möglichst vielen seiner Mitmenschen und uns einen Weg der Heilung aufzuzeigen. Es ist der Weg der Selbsterkenntnis. Er führt von rechter Meditation zu rechter Sicht, rechtem Denken und rechtem Handeln. Das ist die einzige Medizin, die bei dieser Krankheit hilft.

Innehalten und schauen

Richtet das Licht eurer Aufmerksamkeit nach innen und sucht ernsthaft und konsequent nach der Ursache der gegenwärtigen Angst, Sorge, Wut, Unsicherheit oder was auch immer euch in diesem Moment leiden lässt! Durchleuchtet jeden Gedanken, jede Gefühlsregung, jede Erinnerung, in der sich dieses leidende Ich-Phantom angeblich versteckt.

Hütet euch dabei vor voreiligen Schlüssen, Ungeduld, und Selbstkritik. Schaut still und vertrauensvoll in das aufgewühlte Gemüt. Mischt euch nicht ein mit selbstmitleidigen oder verurteilenden Gedanken, sondern richtet das Licht eurer Aufmerksamkeit auf das, was sich in den Wirbeln der Gedanken und Gefühle abspielt, ohne etwas dazwischen zu schieben. Dann werden sich die Wellen legen und es wird still. Dann leuchtet das Gewahrsein aus der innersten Mitte, aus der tiefsten Tiefe des Herzens heraus. Man befindet sich sozusagen im leeren Auge des Sturms. Dort ist es immer still und hell.

In dieser Stille löst sich die Identifikation mit den schmerzhaften Bewegungen des Geistes und das Haften daran. Man kann sein eigenes Leiden und das Leiden der Mitmenschen spüren und annehmen, aber man ist nicht mehr darin gefangen. So wie es mein Lehrer H. Platov kurz vor seinem Sterben sagte, als er gefragt wurde, wie es ihm gehe. Er lächelte und sagte: «Ach ich nehme das alles nicht so persönlich.» Dass er unter grossen Schmerzen litt, haben wir erst nachher von seinem Arzt erfahren.

Fazit: Solange man aber überzeugt ist, dass «ich leide», bleibt man darin stecken. Und solange man meint, mein Ego ist schuld am Leiden, glaubt man an den Teufel an der Wand. Dagegen hilft nur absolute Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit beim Hinterfragen der Denkgewohnheiten.

Aus diesem Grund fragt Manjushri weiter:

Körper oder Geist?

Manjushri: «Ist es eine Krankheit des Körpers oder des Geistes?»

Mit anderen Worten: Welcher Arzt kann hier behilflich sein? Ein Mediziner, der die Körperfunktionen untersucht, Fehler definiert und diagnostiziert oder ein Psychiater, der angeblich den Geist kennt?

Vimalakirti: «Es ist keine Krankheit des Körpers, denn sie ist jenseits des Körpers und sie ist nicht die des Geistes, denn der Geist ist wie eine Illusion.»

Es ist keine Krankheit des Körpers: Der Körper ist nicht schuld. Der Körper ist nicht krank.

Nehmen wir zum Beispiel die Erfahrung während der Corona-Pandemie. In unserem Denken waren wir alle sehr schnell von dieser Seuche angesteckt! Auch wenn wir keines der definierten Symptome aufwiesen.

Denn schon das Wort Corona machte viele krank. Jeden Tag im Fernseher die stachligen Kugeln in wechselnden Grössen und Farben zu sehen – die bösen Viren – und die sogenannten steigenden Fallzahlen zu hören, zwang das Denken unmerklich in eine bestimmte Bahn. Jedes körperliche Ungleichgewicht, ein Schnupfen, ein Husten oder ein Fieber, wurde zur Gretchenfrage: Ist es Corona oder nicht? Wenn ja fühlte man sich dem Tod geweiht, wenn nein, hat man Glück gehabt, aber blieb in der Angst vor einer eventuellen späteren Ansteckung trotzdem noch lange verhaftet.

Sind unsere Sorgen und Ängste also eine Krankheit des Geistes? Vimalakirti sagt «Nein». Der Geist ist wie eine Fatamorgana; er kann weder krank noch gesund sein.

Was wir unter Geist verstehen ist keine fixe Sache. Alle unsere intellektuellen Versuche, den Geist wie ein Objekt zu definieren, zu analysieren oder zu diagnostizieren, beruhen auf demselben Irrtum, wie die Ideen von einem Ich, von Einzeldingen, Gegenständen und «der Welt» überhaupt.

Fazit: Weder der Körper noch der Geist ist krank. Das, was krank ist, ist unser Denken, das falsche Ansichten und Überzeugungen produziert.

Ist die Natur krank?

Manjushri will es noch genauer wissen. Er will an die Wurzel dieser Sache und gibt sich nicht zufrieden. Er resigniert auch nicht und sagt: «Das ist alles zu hoch für mich. Offenbar bin ich zu dumm, um diese Auffassung von Krankheit zu verstehen.» Nein, er fragt weiter:

Manjushri: «Welches der vier Elemente, Erde, Wasser, Feuer, Luft ist krank?»

Vimalakirti: «Es ist keine Krankheit des Elementes Erde, aber sie ist auch nicht jenseits davon; sowie es auch keine Krankheit des Elementes Wasser, Feuer und Luft ist. Aber, da die Krankheit aller Lebewesen ihren Ursprung in den vier Elementen hat, die sie leiden lassen, bin auch ich krank.»

Erde, Feuer, Wasser, Luft sind die Bausteine allen Lebens auf dieser Welt. Keines der Elemente existiert nur für sich allein. Sie verbinden sich in unendlichen Kombinationen zu immer neuen Formen. Sie tun dies nach den Gesetzmässigkeiten, die dem ganzen Universum zu Grunde liegen. Ihre Formen sind unbeständig und wechselhaft. Auch sie sind weder gesund noch krank.

Der aus den vier Elementen zusammengesetzte Körper ist das Gefäss oder das Gewand unseres Bewusstseins. Bewusstsein und Körper sind untrennbar, das eine existiert nicht ohne das andere. Dies beweist sich uns u.a. in jedem traumlosen Schlaf oder wenn man in totaler Selbstvergessenheit mit einer Sache beschäftigt ist: Man ist sich weder seiner selbst noch seinem Tun bewusst.

Weder krank noch gesund

Das menschliche Bewusstsein ist also von den materiellen Elementen abhängig, aber es ist nicht von diesen erzeugt. Das, was die materielle Form belebt und ihr Bewusstsein verleiht, ist die elementare, universale Lebensenergie. Diese Energie ist weder krank noch gesund. Wenn sie aktiv ist und fliesst, wirkt sie in jeder Zelle, in jeder Gefühlsregung, in jedem Gedanken, in jedem schöpferischen Akt sämtlicher Wesen auf dieser Welt. Wenn sie passiv ist oder unterbrochen wird, dann kommt der Lebensfluss ins Stocken oder versiegt. Beide Aspekte sind weder permanent noch manipulierbar, sie wechseln sich ab und folgen dabei ihren eigenen Gesetzen.

Die Quelle des allgegenwärtigen Lebensflusses kennen wir nicht, denn sie ist mit dem Denken nicht erreichbar. Aber wir haben ein intuitives Empfinden dafür; das Vorhandensein und Wirken einer universellen Naturkraft wird wohl von niemandem angezweifelt oder verneint. Ob man diese nun Urnatur, Buddha-Natur, Gott, Tao, Kosmos oder anders nennt, ist reine Ansichtssache.

Solange wir in der Trennung von Körper und Geist gefangen sind, betrachten und beurteilen wir das Leben nur aus unserer persönlichen Perspektive. Wir setzen unsere persönliche Befindlichkeit, unser eigenes Wollen und Nicht-Wollen ins Zentrum und tanzen dementsprechend um das goldene Kalb der Ich-Illusion.

Es gibt aber einen Krankheitskeim, der im menschlichen Bewusstsein angelegt ist.

Der Krankheitskeim

Auch wenn wir nicht krank geboren werden, so tragen wir doch alle die Samen des falschen Denkens in uns. Denn jedes Menschenkind wird geboren aus Unwissenheit und Verlangen.

Diese These hat der Buddha in der Lehre vom bedingten Entstehen dargelegt und im Bild des Lebensrades (Bhavacakra) veranschaulicht. Er sagte: Wenn ein Mensch stirbt, kehrt alles Unerledigte, das in seinem Bewusstsein noch vorhanden ist an Verlangen, Wünschen, Emotionen, Groll und Sehnsucht als eine Art energetische «Samen» ins grosse kollektive Speicherbewusstsein zurück. Dort lagern die Samen als Potenzen oder Tendenzen, bis die Bedingungen reif sind, um sich in einem neuen bewussten Wesen zu entfalten. Jedes menschliche Bewusstsein trägt also Samen in sich, die das Denken und Handeln der Ahnen und der gesamten Menschheit erzeugt haben.

So gesehen, ist kein Mensch bei der Geburt ein völlig unbeschriebenes Blatt. Wir tragen das ganze Wissen der Menschheit in uns; das ewige Verlangen nach Glück ebenso wie die Ursachen des Leidens und die Fähigkeit, diese zu überwinden. Wenn dann im Laufe unseres Lebens die gesetzmässigen Voraussetzungen gegeben sind, werden diese Veranlagungen aktiviert.

Klarsicht

Man könnte vielleicht denken, dass das Wissen und Verstehen, das zu Buddhas und Vimalakirtis Zeit als tiefgründige Weisheit nur wenigen zugänglich war, heutzutage dank der Gen-Technik zum Allgemeingut geworden sei. Doch dem ist nicht so. Unsere Wissenschaft kann zwar einzelne Samen im Erbgut unterscheiden und gewissen Körperfunktionen zuordnen, aber deren Herkunft und Wirkungsweise liegt weiterhin in der Dunkelheit der Unwissenheit verborgen. Wir betrachten noch immer alles aus der Perspektive von Gut und Schlecht; Liebe und Hass. Unser Denken ist noch immer so dualistisch und egozentrisch, wie zu Buddhas Zeiten. Daran krankt die Menschheit nach wie vor.

Nur wer, wie der Buddha und Vimalakirti vollständige und unwiderrufliche, allumfassende Klarsicht hat, durchschaut nicht nur unserer krankmachenden Weltsicht, sondern kennt die Wahrheit der unzerstörbaren und unvergänglichen Wirklichkeit. Diese Klarheit macht ihn ein für alle Mal von dieser Krankheit frei.

Vimalakirti ruht sich nicht aus in dieser Errungenschaft. Im Gegenteil, es ist sein grösster Wunsch, allen Lebewesen zu dieser befreienden Klarsicht zu verhelfen. Und um den Menschen zu helfen, muss man selber Mensch sein. Man muss in die Schuhe eines leidenden Menschen schlüpfen können. Und das geht nur, wenn man nicht am eigenen Ich haftet.

«Da die Krankheit aller Lebewesen ihren Ursprung in den vier Elementen haben, die sie leiden lassen, bin auch ich krank.»

Vimalakirti selber ist nicht krank. Aber er weiss um das Leiden der Menschen. Er kennt die Ursache davon. Er sieht, wie wir kämpfen und strampeln auf der Suche nach Auswegen und uns dabei immer mehr verrennen, weil wir nicht wissen, wo der Ausweg ist. Und sein Herz blutet, er fühlt den Schmerz seiner Nachbarn, Freunde, Familienangehörigen, ja der ganzen Menschheit, als ob es sein eigener wäre. Und so ist er wegen seines Mitgefühls ebenfalls krank.

Ein Mensch, der seine körperliche Krankheit oder seelische Not mit Haut und Haar wirklich erleidet, annimmt und versteht – nicht intellektuell, sondern mit seinem ganzen Sein versteht –, erkennt sie als ein natürliches Geschehen in seiner persönlichen Biographie.

Wer weiss – nicht intellektuell, sondern mit seinem ganzen Sein weiss –, dass sein Leiden Teil seines körperlichen Lebens ist, nicht aber Teil des grossen universalen Lebens und, dass sein persönliches Dasein im grossen Sein verankert ist, ein solcher Mensch kann tatsächlich mitten im Leiden Frieden erfahren. Es gibt viele Berichte von Menschen aus aller Welt, die dies bezeugen.

Dieses Verstehen und Wissen und die damit verbundene Erlösung ist an keine Religion, keine Philosophie, keine nationale Identität und keine Zeitepoche gebunden. Die Potenz zu ihrer Entfaltung und Verwirklichung ist das geistige Erbgut der ganzen Menschheit.

Was kann man tun?

Wir, die wir noch weit davon entfernt sind, den Geist eines echten Bodhisattvas auch nur annähernd zu erfassen, sind angesichts der menschgemachten Zerstörungen – auf der Erde, im Wasser und in der Luft – und der Kriege und Gewalttaten, die überall in der Welt im Gange sind, allenthalben, sind sehr anfällig für die Krankheit wie Niedergeschlagenheit, Wut oder Gleichgültigkeit, nicht wahr? Man mag sich in die eigene Innenwelt zurückziehen, in virtuelle Welten oder Vergnügungen aller Art, um nichts zu hören und nichts zu wissen. Das Leiden findet aber trotzdem statt.

Wie kann man es aushalten, wenn man weiss und sieht, wie absurd und widersinnig das menschliche Verhalten manchmal ist? Oder wie dumm und stupide manche Entscheidungen sind, die wir treffen, wenn wir etwas nicht wollen, uns aber so verhalten, dass genau das eintrifft, das wir vermeiden wollen?

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Gegenwärtig wird allenthalben vor einer kommenden Verknappung von Heizöl und elektrischem Strom gewarnt. Alle Medien posaunen es in die Welt hinaus: «Achtung! Achtung! Im Winter wird es in unseren Wohnungen kalt sein, weil es nicht genug Öl und Strom geben wird!»

Und jetzt, statt sich mit warmer Unterwäsche und Pullovern einzudecken, besorgen sich viele in Panik Elektro-Öfen und Generatoren für ihre Wohnung.

Doch warum wird das Öl knapp werden? – Nicht zuletzt, weil die Politik den Lieferanten verbietet, es uns zu schicken. Aus denselben Gründen wird die Elektrizität massiv verteuert.

Unvernunft finden wir aber auch im ganz gewöhnlichen Alltag. Zum Beispiel: Man ist müde, es wäre an der Zeit sich auszuruhen oder zu Bett zu gehen. Aber was macht man? Man trinkt Kaffee oder nimmt irgendein Aufputschmittel oder einen Stimmungsaufheller, damit und man noch länger arbeiten oder feiern kann.

Was kann man tun, damit man nicht ohnmächtig in den Tiefen der Krankheit versinkt, dem Leben resigniert den Rücken zukehrt oder selbst gewalttätig wird?

Richtiges Denken

In meinen Augen spielt die nächste Frage von Manjushri und Vimalakirtis Antwort genau auf dieses Dilemma an:

Manjushri: «Wie kann ein kranker Bodhisattva seinen Geist kontrollieren?»

Vimalakirti: «Ein kranker Bodhisattva sollte so denken: Meine Krankheit kommt von verkehrten Gedanken und Schwierigkeiten (klesa) während meiner früheren Leben, aber sie hat keine wirkliche Natur an sich. Wer leidet also unter ihr?

Warum ist das so? Weil, wenn sich die vier Elemente zu einem Körper vereinen, die ersteren ohne Besitzer und der letztere ohne Ego sind. Ausserdem rührt meine Krankheit von meinem Anhaften an ein Ego her; daher sollte ich dieses Anhaften auslöschen.

Jetzt, da ich die Quelle meiner Krankheit kenne, sollte ich diese Vorstellung von einem Ego und einem Einzelwesen aufgeben. Ein Körper entsteht durch die Vereinigung aller Arten von Elementen (dharmas), die aus sich selbst heraus entstehen, ohne sich gegenseitig zu kennen und ohne ihren Aufstieg und Fall anzukündigen.»

Der Heute-Zustand ist das Resultat von einer ganzen Kette von Gedanken und Handlungen. Ob diese nun ihren Ursprung in meinem momentanen individuellen Bewusstsein haben oder im Bewusstsein einer früheren Existenz, spielt keine Rolle. Das Denken der Menschheit hat sich nie wirklich verändert und es beruht immer auf derselben dualistischen Annahme von Subjekt und Objekt.

Und solange man nicht versteht, dass man von Natur aus von nichts und niemandem getrennt ist und sich in nichts von allen anderen Lebewesen unterscheidet, solange versucht man, sich abzugrenzen mit Ausreden wie: Ich weiss, aber … ich kann nicht; es geht nicht; die anderen auch und so weiter.

Vimalakirti sagt: Fall nicht auf dieses «aber» hinein! Erkenne das Falsche an deinem Denken! Erkenne den Irrtum und gib ihn auf!

Nicht nur ein Bodhisattva, wir alle sollten uns immer wieder vergegenwärtigen, dass «ich» nicht mein Körper bin. «Ich» bin eine Zusammensetzung von Himmel und Erde – Geist und Materie. Die Elemente kommen nicht zusammen, indem sie sagen: «Jetzt formen wir einen Menschen und dann einen Baum und dann …» Nein, alle Erscheinungsformen sind Früchte des gesamten Lebensbaumes. Und die Natur schafft die Dinge aus den Samen, die vorhanden sind.

Vimalakirti schliesst seine Rede mit folgenden Worten:

«Manjushri, so sollte ein kranker Bodhisattva seinen Geist kontrollieren. Die Bodhisattva-Praxis besteht darin, das Leiden von Alter, Krankheit und Tod zu überwinden. Wenn er dies nicht tut, fehlt es seiner Praxis an Weisheit und sie ist unwirksam.»

Im Sutra fällt Vimalakirtis Antwort auf Manjushri Frage über das richtige Denken in Bezug auf das allgegenwärtige Leiden viel detaillierter aus, als es meine Wiedergabe tut. Ich lasse es aber vorläufig dabei bewenden. Denn es geht prinzipiell immer um dasselbe: Die dualistischen Ansichten zu erkennen und sich davon zu lösen. Wenn ma sich dies in allen Lebenslagen vor Augen hält und praktiziert, kann man die Umstände ohne von Niedergeschlagenheit und Zukunftsangst gehemmt zu werden, annehmen und meistern.

Ressourcen

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