Vimalakirti Sutra 5.2

Die Krankheit

Vimalakirti Sutra 5.2 – In diesem Kapitel erfahren wir endlich, woran Vimalakirti erkrankt ist, und was es mit dieser Krankheit auf sich hat. Nachdem Manjushri und Vimalakirti einige Worte der Begrüssung ausgetauscht haben, kommen sie sofort zur Sache:

Manjushri: «Ich komme im Auftrag von Buddha, um mich nach Eurer Krankheit zu erkundigen. Der Erhabene möchte erfahren, woher die Krankheit kommt, seit wann sie besteht und wie sie enden wird.»

Vimalakirti: «Meine Krankheit kommt von der Unwissenheit und dem Durst nach Existenz. Sie wird solange dauern, wie die Krankheiten aller Lebewesen. Wären alle Lebewesen frei von Krankheit, würde auch ich nicht krank sein. Denn für einen Bodhisattva besteht die Welt aus der Gesamtheit aller Lebewesen und Krankheit ist nun einmal mit dem Leben in dieser Welt verbunden.»

Was Vimalakirti hier als Krankheit bezeichnet, ist nichts anderes, als das, was der Buddha als Dukkha zusammengefasst hat.

Die meisten von uns sind schon oft in Berührung gekommen mit Buddhas Lehre der Vierfachen Wahrheit von der Ursache und der Überwindung des Leidens. Es sollte also nicht schwer sein, Vimalakirtis Krankheit zu verstehen. Ob wir sie allerdings auch bei uns selbst erkennen, ist eine andere Frage.

In der ersten Wahrheit erklärt der Buddha klipp und klar: Das Leben ist Dukkha.

Dukkha wird im Deutschen als Leiden übersetzt. Das ist allerdings nicht der beste Ausdruck, besser wären Worte wie Mühsal, Sorgen, Ängste. Dukkha ist all das, was uns hindert, glücklich und in Frieden zu sein mit uns selbst.

Der ursprüngliche Zustand unseres Geistes ist frei von dieser Art von Leiden. Die grosse Natur ist in Frieden mit sich selbst.

Das heisst aber nicht, dass Tiere und Pflanzen nicht auch alt und krank werden und sterben oder, dass ihr Leben ohne Mühe ist. Auch sie müssen ständig für ihr Überleben sorgen und auf der Hut sein, nicht von anderen gefressen zu werden; auch sie müssen ihren Nachwuchs pflegen und schützen.

Aber habt ihr schon eines dieser Wesen jammern hören: «Ach, mein Leben ist so schlimm und mühsam. Was wird aus mir, wenn ich sterbe?»

Die Diagnose

«Meine Krankheit kommt von der Unwissenheit …» Gemeint ist die grundsätzliche Unwissenheit über das Entstehen und Vergehen aller Lebenserscheinungen. In manchen Übersetzungen ist sogar von Dummheit, Verblendung oder Stupidität die Rede. Unsere Dummheit führt zu allerlei falschen Ideen und Annahmen über die Welt, in der wir leben.

Man glaubt zum Beispiel zu wissen, wer man ist, nämlich eine bestimmte Person mit einer bestimmten Nationalität, mit bestimmten Eigenschaften, Stärken und Schwächen. Der Geburtsschein, die Identitätskarte oder der Pass bestätigen diese individuelle, persönliche Existenz.

Doch was ist, wenn ein Mensch keine solchen Papiere hat? Wer zur Kaste der sogenannten Sans-Papiers gehört, hat keine verbriefte Existenzberechtigung und folglich keine Rechte. Er oder sie muss sich als rechtloser «Niemand» im Niemandsland der Anonymität zurechtfinden. Das ist nur eines von vielen Beispielen für die Dummheit, mit der wir Menschen uns gegenseitig Leid zufügen.

Kein Wunder, dass wir so an unserer Identität hängen, nicht wahr? Wer will schon niemand sein …

…und dem Durst nach Existenz! In dieser Scheinwelt lebend dürsten wir nach Vergnügen, Selbstbestätigung, Liebe und Glück, sind ewig auf der Suche nach etwas Endgültigem, auf das wir uns verlassen und wo wir uns niederlassen können. Dazu gehören auch die Autoritäten, die uns sagen sollen, was richtig ist und was falsch.

Buddhas wunderbare Darstellung vom Lebensrad, dem immerwährenden Kreislauf des Lebens, macht deutlich, wie uns dieser Durst ständig vorantreibt, von einem Daseinsbereich zum nächsten. Ohne Ende, ohne Ziel. So, wie es in Hakuins Lied von der Meditation heisst:

Der Grund, warum wir so durch die sechs Welten wandern, ist der, dass wir in der Dunkelheit der Unwissenheit verloren sind…

Diese Jagd nach Glück, Sicherheit und Frieden macht uns tatsächlich krank!

Vimalakirtis Diagnose der kollektiven Krankheit stimmt also vollkommen mit derjenigen von Buddha überein.

Alle sind im gleichen Spitel krank

Manjushri weiss natürlich ganz genau, was Vimalakirti mit der offiziellen Demonstration seines Krankseins bezweckt. Der Dialog zwischen ihm und Vimalakirti ist deshalb kein blosser Gedankenaustausch zwischen zwei Gleichgesinnten, keine Selbstdarstellung eines reichen Bonzen und kein rhetorischer Wettstreit. Manjushri stellt seine Fragen so, dass alle Anwesenden – Menschen und Götter und auch wir – die Wahrheit erfahren können über die absolute Wirklichkeit, die unserer verzerrten Weltsicht unterliegt.

Denn, wenn man nicht aufgeklärt wird, hat man keine Ahnung, dass diese Welt eine unwirkliche Scheinwelt ist, in der es niemals ein bleibendes Glück und keine endgültige Befriedigung geben kann. Man ist zwar krank und leidet, aber man weiss nicht, dass es auch anders sein könnte, dass dies nicht das wahre Leben ist. Unser wahres Wesen ist kerngesund, hellwach und voller Lebensfreude und Liebe.

Indem Vimalakirti sich ganz und gar zu seinem Menschsein bekennt, nimmt er die Krankheit aller mit vollem Wissen an. Seine Erkenntnis und Botschaft lautet: Wir sind alle im gleichen Spitel krank. Da die Ursache der Krankheit in uns selbst liegt, liegt auch die Möglichkeit der Heilung in uns selbst. Wir haben zwar alle denselben Arzt, die Medizin muss jedoch jeder selber schlucken.

Doch können und wollen wir die Medizin, die Vimalakirti und viele andere Weisen vor und nach ihm geschluckt haben, selber schlucken? Wollen wir den langen Heilungsprozess selber durchlaufen? Sind wir willens und motiviert, den wahren Sachverhalt zu ergründen, um das Leiden mit Geduld, Verstand und Ausdauer schliesslich in Weisheit und Mitgefühl umzuwandeln? Wollen wir den Weg der Befreiung wirklich gehen? Oder leiden wir lieber weiter?

Ist es nicht so, dass wir unsere Täuschungen und Illusionen eher hegen und pflegen, statt uns davon zu trennen? Um dann jedesmal, wenn sich ihre Unhaltbarkeit zeigt, ganz erstaunt zu sein und der bösen Welt die Schuld zu geben?

Lesen wir nicht mit heimlicher Gier jeden Morgen die Schauergeschichten von Unglück und Leiden nah und fern? Dürsten wir nicht nach schlechten Nachrichten und Katastrophen unter dem Vorwand, mitfühlend zu sein? Nehmen wir die wiederkehrenden Konflikte und Kriege hin wie ein Naturgesetz? Aber wehe, das Unglück betrifft uns selbst.

Sind diese Leiden ein von «Gott gegebenes» Schicksal? Oder sind sie die logischen Folgen des seit Generationen eingeübten Verhaltens, das nur ein Gesetz kennt? Nämlich, das Gesetz vom illusorischen Ich mit seiner Devise: mein Vorteil, mein Überleben, mein Glück ist das Einzige, was zählt. Im Kleinen wie im Grossen?

Anteilnahme

Vimalakirti: «Manjushri, wenn zum Beispiel, das einzige Kind eines Elternpaares krank ist, leiden beide Eltern mit ihrem Kind solange mit, wie es nicht von der Krankheit geheilt ist. Genauso liebt der Bodhisattva alle Lebewesen, als ob jedes sein einziges Kind wäre. Er wird krank, wenn sie krank sind, und er wird geheilt, wenn sie geheilt sind.»

Es ist wohl ganz natürlich, dass Eltern mit einem kranken Kind mitleiden – nicht nur mit dem ersten. – Auch wenn ein anderer geliebter Mensch oder ein Haustier krank ist, leidet man mit, nicht wahr?

Doch ist diese Liebe allumfassend, unparteiisch, bedingungslos und selbstlos wie die eines Bodhisattvas, d.h. eines Menschen, der sein persönliches Ich vollkommen ignoriert? Leiden wir ebenso, wenn das Nachbarskind krank ist? Oder das eines sogenannten Feindes?

Hand aufs Herz: Welche Menschen behandeln wir wie das eigene Kind, die eigene Mutter, den eigenen Vater, welche nicht? Welche Tiere und Pflanzen lieben und schützen wir, welche nicht? Wer bekommt unsere Liebe, wer unseren Hass?

Das ist ein heikles Thema, nicht wahr? Man spricht nicht gerne darüber. Denn jede Gesellschaft trimmt ihre Mitglieder auf die Linie der sogenannten kollektiven Werte. Die Partei, die gerade am Ruder ist – oder ist es Gott? – bestimmt, wer Feind ist und wer Freund und fordert Gehorsam unter dem Diktat von Vaterlandsliebe, Gottesliebe, Loyalität, Solidarität oder was auch immer. Von dieser Tatsache, vor diesem Leiden, ist niemand gefeit.

Wie werden wir fertig mit dem allgegenwärtigen Joch von Ansichten, Meinungen und kollektiven Zwängen? Diesem Konflikt zwischen ich und du, mein und dein, Liebe und Hass? Können wir ihn anschauen, ergründen und überwinden?

Oder rennen wir weg, an irgendeinen angenehmen Ort oder Gemütszustand, wo wir unsere Ruhe und Frieden haben? Oder werden wir sarkastisch, gleichgültig, gewalttätig, abgebrüht, depressiv, weil wir uns selbst als Opfer sehen und nicht als selbstverantwortliche Menschen mit Verstand und Herz?

Wahres Mitgefühl

Vimalakirti fährt fort: «Um deine Frage zu beantworten, woher meine Krankheit kommt, sage ich: Die Krankheiten eines Bodhisattvas entstehen aus grossem Mitgefühl.»

Wahres Mitgefühl, wahre Liebe ist ein Grundprinzip, das zu allen Zeiten, in allen Kulturen und überall in der Welt von verschiedenen Menschen erkannt, gelebt und gelehrt wurde und wird. Es ist nicht die soeben beschriebene parteiische Liebe zwischen Gleichgesinnten, nicht die Liebe, die unter Blutsverwandten eingefordert wird, nicht die sentimentale Liebe der Verliebten, nicht die emotionale Liebe zu Natur und Tieren, nicht das Hochgefühl der sexuellen Lust, nicht die Liebe zu einer menschlichen oder göttlichen Autorität, nicht das distanzierte Mitleid von oben herab.

Wahre Liebe hat kein Gegenteil namens Hass. Sie hat nichts zu tun mit Sympathie und Antipathie. Wahre Liebe ist keine Emotion. Sie hat nichts zu tun mit der dualistischen Welt, denn sie existiert aus sich selbst heraus. Sie hat hat keinen Schöpfer und kein Objekt.

Im Verständnis des Buddhismus ist Liebe das Prinzip der Urnatur, die allen Leben zu eigen ist. Und das Mitgefühl eines Bodhisattvas ist der natürlich Ausdruck davon. Wenn ein Mensch sein wahres Wesen realisiert, dann ist sein Denken und Handeln automatisch in liebevoller Beziehung zu allem, was existiert.

Aus diesem Grund sind Begriffe wie «Weisheit» und «Mitgefühl» in allen buddhistischen Texten sehr eng verknüpft mit den Begriffen «Urnatur», «reiner Geist», «Herz-Geist» «Leerheit». Um nur einige zu nennen.

Weisheit und Mitgefühl/Liebe sind gewissermassen die Wellen im Ozean der Leerheit. Man kann das eine nicht vom anderen trennen.

Wir sollten uns dies deutlich vor Augen halten, wenn wir nun zum Dialog von Vimalakirti und Manjushri zurückkehren. Denn nachdem Vimalakirti erklärt hat, dass seine Krankheit aus dem grossen Mitgefühl eines Bodhisattvas entsteht, kommt Manjushri noch einmal auf das leere Haus zurück.

Heilende Leere

Manjushri: «Warum ist das Haus des ehrwürdigen Haushälters leer und ohne Diener?»
Vimalakirti: «Alle Buddha-Länder sind ebenfalls leer.»

Zur Erinnerung: Der Begriff Buddha-Land ist eine poetische Umschreibung für das Bewusstsein eines geistig erwachten Menschen. (Siehe Kapite 1). Vimalakirti sagt also: Der klare, ursprüngliche Geist ist immer leer.

Manjushri: «Wovon ist das Buddha-Land leer?»
Vimalakirti: «Es ist leer von der Leerheit.»

Der leere Geist weiss nichts von Leerheit.

Manjushri: «Wovon ist die Leerheit leer?»
Vimalakirti: «Leerheit ist leer, weil es keine Unterscheidungen gibt.»

Wie heisst es doch im Herz-Sutra so treffend? «In der Leere gibt es keine Form, kein Denken, kein Wollen … kein Wissen, kein Nichtwissen …keine Erkenntnis und kein Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt.»

Die absolute Wirklichkeit kennt keine Zweiheit und keine Dreiheit.

Manjushri: «Kann Leerheit Gegenstand von Unterscheidung sein?»
Vimalakirti antwortete: «Alle Unterscheidungen sind auch leer.»

Unsere Welt ist voll von unterscheidbaren Einzeldingen. Wir sollten aber wissen, dass diese Unterscheidungen Konstrukte unseres Denkens sind. Das Denken interpretiert die Sinneswahrnehmungen und verleiht ihnen irrtümlich Festigkeit und Dauer. Doch in Wirklichkeit sind die Dinge ohne Substanz. Form ist Leere ist Form.

Manjushri: “Wo kann man die Leerheit suchen?»
Vimalakirti: «Sie sollte in den falschen Ansichten der Menschen gesucht werden.»

Im Text heisst es wörtlich: «Sie sollte in den zweiundsechzig falschen Ansichten der Menschen gesucht werden.» Diese Zahl ist für unser Verständnis nicht wichtig. Wichtig ist es zu verstehen, dass sämtliche Aussagen über die «Wirklichkeit», «das wahre Wesen» oder den «ursprünglichen Geist» falsch sind. Sie sind falsch, weil sie auf der Basis unseres Denkens beruhen.

Andererseits: Ohne «falsches»Denken, könnten wir «rechtes» Denken nie erkennen. Das eine offenbart das andere. Deshalb sagte der Buddha, dass eine Geburt in der dualistischen Menschenwelt die beste Chance sei, um die nicht-dualistische Wirklichkeit zu realisieren. Rechtes Denken und rechtes Handeln und alles, was damit zusammenhängt, sind die Pflastersteine auf dem Weg, der der den grundlegenden Irrtum nicht nur aufdeckt, sondern darüber hinaus führt. Das ist die vierte Wahrheit von Buddhas Lehre. (Siehe der Edle achtfache Pfad).

Selbstheilung durch Selbsterkenntnis

Manjushri: «Wo sollten die (zweiundsechzig) falschen Ansichten gesucht werden?»
Vimalakirti: «Sie sollten in der Befreiung aller Buddhas gesucht werden.»

Wenn ein Mensch seine eigenen Geistesaktivitäten – Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen und Bewusstsein – aufs gründlichste untersucht und bis ans Ende des Denkens geht und «noch einen Schritt darüber hinaus», offenbart sich ihm früher oder später die Unwirklichkeit der gewöhnlichen, phänomenalen Welt. Er «sieht» deutlich, dass alle Lebewesen, – alt oder jung, gehend, schwimmend, fliegend oder kriechend, im Himmel, auf der Erde oder in der Erde lebend, – Formen der einen unveränderlichen Leerheit sind. Er versteht, dass auch die Gedanken und Vorstellungen der Menschen ihrem Wesen nach leer sind.

Diese Erfahrung kommt einer enormen Befreiung gleich.

Man braucht nicht mehr krankhaft danach zu streben, Unvereinbares zu vereinbaren oder Gegensätze zu versöhnen. Man sieht ihre grundsätzliche Einheit. Man weiss, dass es in der Wirklichkeit weder etwas Richtiges noch etwas Falsches gibt.

Selbst das körperliche Lebensende ist nicht mehr zu fürchten, denn man weiss, dass es in Wirklichkeit nichts zu verlieren gibt.

Nun kann man sich dem Fluss der Dinge überlassen, im Vertrauen, dass man im Ganzen aufgehoben ist. Man braucht sich keine Sorgen mehr zu machen und kann im grössten Sturm, mitten in Schmerz und Chaos bestehen. So wie eine Ente im Wasser: Sie mag von den Wellen hin und her geworfen werden, aber sie wird nicht nass.

Das ist die höchste, vollkommene Freiheit, die alle Buddhas realisieren und die von den Bodhisattvas verkörpert wird.

In dieser Freiheit offenbart sich das liebende, mitfühlende Herz ganz von allein. Mitgefühl und Weisheit sind eins.

Vimalakirti Sutra 5.2
Vimalakirti Sutra 5.2
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