Vimalakirti Sutra 4.1

Begegnungen mit den Bodhisattvas

Vimalakirti Sutra 4.1 – Dieses Kapitel handelt von Begegnungen zwischen Vimalakirti und einigen Jüngern Buddhas, die als Bodhisattvas bekannt waren. Es ist gewissermassen eine Fortsetzung von Kapitel 3. Denn noch immer sucht der Buddha unter seiner Anhängerschaft nach jemandem, der bereit ist, sich Vimalakirtis Gegenwart zu stellen und ihn wegen seines Krankseins zu befragen. Alle bekannten Schüler hatten sich geweigert, diesen Auftrag zu übernehmen, mit der Begründung, einer Begegnung mit diesem weisen Laien nicht gewachsen zu sein. 

Nun wendet sich der Buddha an vier Personen, die den Status eines Bodhisattvas innehatten. Sie heissen Maitreya, Prabhavyuha (jap. Kogon Doji), Jagatimdhara (jap. Jisai), Sudatta (jap. Zentoku).

Wie im vorherigen Kapitel geht es um eine Auseinandersetzung mit Ideen und Praktiken des angewandten Buddhismus. Doch die Akzente, die Vimalakirti in diesen Begegnungen mit den Bodhisattvas setzt, sind noch eine Spur subtiler und umfassender, als bei den Schülern. Er, der selber ein Bodhisattva war, deckt hier einige Stolpersteine auf, die selbst erfahrene Praktizierende auf dem endlosen Pfad der geistigen Wachheit zum Straucheln bringen können.

Vimalakirti spricht auch zu uns. Alle angesprochenen Bodhisattvas sind gerade da, wo wir sind. Denn ihr Geist ist kein anderer Geist, als der Geist, der in uns selbst wirksam ist. Wir sind alle von der gleichen Natur und befinden uns letztendlich auf demselben Weg. Der ursprüngliche Geist kennt keine Zeit und keine räumlichen Grenzen. Und er unterscheidet nicht zwischen dir und mir oder zwischen guten (erleuchteten) Lebewesen und schlechten (unerleuchteten) Lebewesen. 

Bedeutung von «Bodhisattva» (wörtl. Erleuchtungswesen)

Im Buddhismus steht der Begriff Bodhisattva ursprünglich für ein Wesen, dessen Geist auf die vollständige Verwirklichung der Buddhaschaft ausgerichtet ist mit der Absicht, dies nicht nur für sich, sondern zum Wohle aller Lebewesen zu tun. Es scheut sich nicht, dafür sein eigenes Leben zu opfern. 

Diese geistige Ausrichtung beschränkt sich nicht nur auf eine Lebensspanne in unserer materiellen Welt und nicht nur auf menschliche Wesen. Es ist ein Prozess, der sich über zahlreiche Lebenszyklen entfaltet und verstärkt. Er kommt dann zu Ende, wenn die vollständige und nicht mehr rückgängig zu machende Befreiung aus dem Rad von Geburt und Tod erlangt ist (Sanskrit: anuttarā samyaksambodi). 

Diese endgültige Freiheit von jeglicher Art von Leiden – d.h. ohne Rückfälle in Zweifel, Täuschungen und Denkgewohnheiten –  ist der Zustand der Buddhaschaft.

Die buddhistische Idee eines sich über unendlich viele Lebenszeiten erstreckenden geistigen Prozesses basiert auf Buddhas eigener Erkenntnis. Die Erzählungen namens Jatakas enthalten Beispiele von vielen guten Taten (Karma), die Siddharta Gautama in früheren Daseinsformen – tierischen und menschlichen – als Bodhisattva vollzogen hatte. 

Auf dieser Sicht basiert auch Buddhas Lehre, die besagt, dass jedes Lebewesen in sich die Macht trägt, sein eigenes Schicksal zum Guten oder zum Schlechten zu wenden. Jede Lebensform – sie mag noch so klein und kurzlebig sein – kann Wege und Mittel finden, sich so zu entwickeln, dass sie in Harmonie mit den gegebenen Umständen leben kann. Denn das liegt in der Natur des universalen Geistes. 

Der Buddha betonte, dass besonders das Leben als Mensch eine äusserst kostbare Chance ist, aus dem Schlummer der Unbewusstheit zu erwachen. Selbst kleine Handlungen, die von Einsicht und Güte motiviert sind, haben eine grosse Wirkung. Mit zunehmender Erfahrung kommt der verborgene Schatz an Weisheit ans Tageslicht; durch stetige Praxis wird er poliert und entfaltet seinen Glanz. Aber es gibt kein Ende in diesem Prozess.

Erweiterte Bedeutung

Im später entwickelten Mahayana-Buddhismus erfuhr der Begriff des Bodhisattvas eine Erweiterung. Es kam zu einer Unterscheidung zwischen irdischen Bodhisattvas und transzendenten Bodhisattvas. 

Irdische Bodhisattvas sind Menschen, die in unserer Welt – Samsara – leben. Ihr Bestreben, Täuschungen, Gier und Hass in sich selbst endgültig zu überwinden, kommt im sogenannten Bodhisattvagelübde zum Ausdruck. Es wird bis heute in allen buddhistischen Einrichtungen geehrt und respektiert.

Transzendente Bodhisattvas sind geistige Wesen. Sie haben sich sich bereits von der menschlichen Widersprüchlickeit gelöst. Daher sind sie nicht mehr an die Welt von Freud und Leid gebunden. Noch sind sie aber nicht vor gelegentlichen Rückfällen in Zweifel, Täuschungen und Denkgewohnheiten gefeit. Sie erscheinen in vielen Gestalten, sowohl in sichtbaren Verkörperungen als auch in rein geistiger Form. Sie leben und manifestieren sich nicht nur in der Menschenwelt, sondern auch in den «höheren» oder «niedrigeren» Daseinswelten. (Siehe die Darstellung im Bhavacakra/Lebensrad)

Der Glaube an geistige Wesen, die sich in der Menschenwelt manifestieren, ist jedoch kein spezifisches Merkmal des Buddhismus. Er zeigt sich in allen Kulturen in der einen oder anderen Form. 

Bodhisattva Maitreya

In der Mythologie des Buddhismus gilt Maitreya als die Verkörperung der universalen Liebe und des Mitgefühls. Der Name ist vermutlich vom Sanskritwort «maitri» abgeleitet, das gewöhnlich mit Liebe, Güte oder Freundschaft übersetzt wird. Maitreya gehört zur Kategorie der transzendenten Bodhisattvas, hat also die Buddhaschaft bereits erlangt.  

Sein geistiger Aufenthaltsort ist der Tushita-Himmel, auch das Tushita-Land genannt. «Tushita» bedeutet «Freudvolles Land». Gemäss der Überlieferung prophezeite der Buddha Maitreya, dass er einst – nach vielen Zeitaltern – als der nächste Buddha in der Welt erscheinen wird.

Zur Lebzeit von Shakyamuni Buddha manifestierte sich Maitreya als ein hoch angesehener Jünger von Buddha. In dieser Funktion tritt er auch im Vimalakirti-Sutra auf. 

Der Stufenweg zur Erleuchtung

Der Buddha erkannte in jedem Menschen sowohl die prinzipielle Potenz zum Erwachen als auch den momentanen Geisteszustand. Der klare, ursprüngliche Geist ist immer vorhanden, ein Mensch kann jederzeit dazu erwachen. Aber die eingefleischten Denkgewohnheiten, Neigungen und Bedingungen, die jeder in sich trägt, sind schwer zu überwindende Hindernisse. Dementsprechend führte der Buddha seine Jünger wie ein Lehrer von Klasse zu Klasse oder von Stufe zu Stufe. So weit, wie es eben für den Einzelnen möglich war. 

In dieser Sichtweise hatte  Maitreya die «höchste» Stufe eines Bodhisattvas erreicht.  

Man muss sich vor Augen halten, dass der Buddha eine bunt gemischte Anhängerschaft hatte. Da gab es Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt etwas von einem Weg der Bewusstwerdung hörten. Wenn sie sich vom Gehörten angesprochen fühlten, folgten sie dem Buddha an verschiedene Orte, um bei möglichst vielen Vorträgen dabei zu sein. Das waren die sogenannten Hörer. 

Eine andere Gruppe bestand aus Menschen, die sich das Gehörte zu Herzen nahmen und in die Tat umsetzen wollten. Ihnen gab der Buddha viele hilfreiche Hinweise über das rechte Verstehen und das rechte Handeln. Viele blieben jahrelang in Buddhas Nähe. Wenn sie nicht an den regelmässigen Versammlungen während der Regenzeit teilnahmen, dann wanderten sie durch das Land und praktizierten für sich selbst. Einige taten dies in der Zurückgezogenheit, andere verbreiteten Buddhas Botschaft in Dörfern und Städten. Das waren die Schüler. Einige von ihnen haben wir im letzten Kapitel kennen gelernt. 

Die Gruppe der Bodhisattvas umfasste jene Jünger, deren Geistesschulung unter dem Buddha quasi abgeschlossen war. Sie blieben jedoch in seiner Nähe, um ihre Erkenntnis und Praxis zu vertiefen. Zu dieser Gruppe gehörten sowohl Maitreya als auch Vimalakirti.

Der Buddha hatte die Klassifizierung der Entwicklungsstufen vermutlich ganz pragmatisch vorgenommen, um seiner mannigfaltigen, bunt gemischten Anhängerschaft (Sangha) eine gewisse Struktur und Perspektive zu geben. Doch dann geschah das, was fast immer geschieht, wenn ein geschickter Pionier in der menschlichen Gesellschaft neue Ideen und Leitlinien einführt. Es bilden sich in den Köpfen der Anhänger persönliche Meinungen und Werturteile mit den dazugehörenden Kategorien und Rivalitäten. (In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Buddhismus in keiner Weise von anderen etablierten Religionen und dogmatischen Organisationen.) Und so wurde aus Buddhas pragmatischer Betrachtungsweise eine fixe Systematisierung. Man hatte nun etwas zum Lehren, Diskutieren und Streiten…

Es waren solche eingefrorenen Ideen, Überzeugungen und Praktiken, die Vimalakirti kritisierte und angriff, sobald er sie irgendwo bemerkte. Egal wie «hochentwickelt» oder «unentwickelt» der Träger dieser Ideen auch sein mochte.

Vom Bodhisattva zum Buddha

Im Sutra erfahren wir, dass Maitreya einst dabei war, dem Deva-König des Tushita-Landes die Stufenleiter zur Erleuchtung zu erklären. Devas sind die Bewohner von geistigen Welten. Sie manifestieren sich oft als Gedanken oder Intuitionen. Wie schon gesagt, Tushita ist das geistige Land von Maitreya.  

Maitreya sprach demnach zum König und zu den Untertanen in seinem eigenen geistigen Land. Mit anderen Worten: Er befand sich in seinem eigenen Geist und dachte nach. Der König und seine Zuhörer waren er selbst. 

Das Thema, über das er nachdachte, war der Erleuchtungsweg, den der Buddha für seine Schüler dargelegt hatte. Wobei der Buddha ihm, Maitreya, einmal gesagt haben soll, dass er nur noch einmal geboren werde und dann die vollkommene Buddhaschaft erlange. 

Nun diskutierte er mit sich selbst – dem König seines Geistes und dessen Untertanen – über diese Angelegenheit. Was haben Buddhas Voraussagen zu bedeuten? Was heisst das konkret, jetzt für mich und meine Mitmenschen? Hier in dieser Welt? 

Man darf wohl zu Recht annehmen, dass ein ernsthafter Mensch, wie Maitreya es war, über solche oder ähnliche Fragen nachdenkt. 

Dieses Denken jedoch führt unweigerlich in eine Sackgasse. Warum? Weil das Denken immer auf bekannten Prämissen aufbaut. Im vorliegenden Fall sind das die Vorstellungen von Erleuchtung und dem Erreichen von Erleuchtung in einer bestimmten Zeit. – Nun ist es höchste Zeit für Vimalakirti, einzugreifen und die Angelegenheit ins rechte Licht zu rücken!

Vimalakirtis Frage

Dann sagte der Buddha zu Bodhisattva Maitreiya: «Geh du zu Vimalakirti, um dich in meinem Namen nach seiner Gesundheit zu erkundigen.»

Maitreya antwortete: «Weltverehrter, ich bin nicht qualifiziert, ihn aufzusuchen und mich nach seiner Gesundheit zu erkundigen.» …

Nun erzählt er dem Buddha, dass er einmal dem König und seinem Gefolge im Tushita-Himmel die endgültig letzte Stufe der Bodhisattva-Entwicklung erläutert habe. Und da sei Vimalakirti aufgetaucht und habe gesagt: 

«Maitreya, der Ehrwürdige hat dir vorausgesagt, dass du in einem Leben, d.h. nach nur einer Geburt, die höchste Erleuchtung erlangen wirst.

Sag mir, auf welches Leben bezieht sich die angekündigte Nicht-wieder-Geburt? Auf ein Leben der Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart? Wenn es eine vergangene Geburt ist, dann ist sie schon vorbei. Sollte sie in der Zukunft sein, dann ist sie niemals geschehen. Bezieht sie sich auf dein gegenwärtiges Leben, dann ist es nicht endgültig.

Denn, wie der Buddha den Mönchen einmal erklärt hat, wird man in jedem Augenblick gleichzeitig geboren, altert und stirbt.

Hat der Buddha vielleicht vom letztendlichen Zustand des Nicht-geboren-werdens gesprochen? Aber der Urszutatnd der Geburtlosikgeit hat keinen Beginn und kein Ende, daher gibt es weder das Empfangen einer Prophezeiung noch die Erlangung der vollkommenen Erleuchtung.»

Wann findet Erleuchtung statt?

Maitreya ist also beschäftigt mit Buddhas Prophezeiung seiner letzten Geburt und dem Erreichen der endgültigen Erleuchtung.

Da erscheint ihm plötzlich Vimalakirti – woher kam der wohl? – und fragt ihn: Hey, was meinst du, wann soll dein letztes Leben und diese endgültige Erleuchtung stattfinden? Du sprichst von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart so, als ob das echte Dinge wären. Das einzige Leben, das echt ist, ist das aktuelle Leben. Alles andere ist entweder vergangen oder noch nicht entstanden. Aber selbst das aktuelle Jetzt, wird im Nu zur Vergangenheit und schafft sich selbst als Zukunft. Es ist wie der Buddha erklärt hat: Geburt und Tod – Entstehen, Sein, Vergehen – finden ständig statt, ohne Anfang und ohne Ende. Wann also wirst du erleuchtet werden? 

Oder hat der Buddha vielleicht gesagt, dass du bereits im absoluten Geisteszustand lebst, in dem es weder Geburt noch Tod gibt? Wenn dem so wäre, dann gäbe es jedoch auch keine Gedanken. Weder solche an die Zukunft noch solche an Erleuchtung.

Die Crux der Zeit

Es ist eine Eigenart von uns Menschen, in Zeiträumen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken. Wir frönen der Neigung, uns Dinge auszumalen, zu planen und zurechtzulegen. Damit verbunden ist der Drang, Geschehnisse vorauszusagen. Die Menschheitsgeschichte ist voll von Propheten, Orakeln und Wahrsagern. Davon zeugen nicht zuletzt auch die Horoskope in den Magazinen und Illustrierten, die an jeder Strassenecke zu kaufen sind. Unser ganzes Leben ist in der Regel verplant und mit Zielen verstellt. 

Die Crux all dieser Unterfangen ist, dass sie auf absolut wackeligen Beinen stehen, bar jeder konkreten Basis. Beruhen sie doch zwangsläufig auf Daten der Vergangenheit und reinen Spekulationen.

Daten oder Spekulationen – sind das nicht blosse zusammengesetzte, mentale Fragmente von etwas, das einmal war? Sind meine, deine, unsere Erfahrungen etwas anderes als subjektive Interpretationen von etwas, das wir oder jemand anders einmal gefühlt, gedacht oder empfunden haben und auf eine vorgestellte Zukunft projizieren?

Nehmen wir an, 20 Personen machen zusammen eine Reise. Sie übernachten in denselben Hotels, besuchen dieselben Sehenswürdigkeiten, essen dieselben Speisen. Wieder Zuhause werden sie gefragt, wie es in dem Land ist, in dem sie waren. Was glaubt ihr, wieviele verschiedene Länder lernen wir nun «kennen»? Und wieviele Vorstellungen reisen im nächsten Bus zum selben Ort? 

Deshalb: Erinnerungen sind illusorische Gebilde, Produkte des Denkens. Folglich ist auch die Vergangenheit ein illusorisches Gebilde und ein Produkt des Denkens. Ohne Denken, keine Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart – kurz: keine Zeit.

Ein Moment in der Unendlichkeit

Man kann Erleuchtung nicht planen. Und man kann nicht erleuchtet werden! Der klare, ichlose Geist ist schon erleuchtet. Ganz ohne «mein» Dazutun. Er kann nicht kommen und nicht gehen. 

Wir Menschen können uns der Realität und zeitlosen Präsenz des universalen Geistes nur in einem reellen momentanen Augenblick gewahr werden. So wie man einen Lichtstrahl der Sonne nicht festhalten oder planen kann, so kann man die Einsicht in das wahre Wesen der Existenz, wenn sie unser dunkles Bewusstsein erhellt, weder voraussagen noch festhalten. 

Ein Moment der Klarsicht geschieht weder in der Zeit noch in der Person. Das Denken ist dafür viel zu träge, und das illusorischen Ich wird von der Wirklichkeit unverzüglich eliminiert. 

Ein Moment, in dem man sieht, was wirklich ist – «Oh!» – und gleichzeitig staunend realisiert, dass alle bisherigen Vorstellungen, Annahmen und Überzeugungen hinfällig sind – so einen Moment kann man nur erleben, nicht aber denken. Die Zen-Meister pflegte uns zu sagen:

«Die Dinge sind nicht das, was sie zu sein scheinen, aber auch nichts anderes».

Dies ist ebenfalls ein sprachlicher Ausdruck für die erleuchtete Sicht auf unsere Welt.

Was also ist Erleuchtung?

Niemand kann erklären, was Erleuchtung ist und wie man sie erlangt. Deshalb mahnte Vimalakirti:

«Maitreya, führe die Devas nicht in die Irre, denn es gibt weder eine Entwicklung des höchsten Bodhi-Geistes noch ein Abfallen davon. Du solltest sie stattdessen dazu auffordern, sich von jeglichen dualistischen Ansichten über Erleuchtung, Bodhi, fernzuhalten. Und warum?

Weil das, was absolut ist, keine zwei Seiten hat, also jenseits von Unterscheidung ist.

Der Zustand der Stille und des Erlöschens aller Leidenschaften kann weder durch den Körper noch durch das Denken gewonnen werden. Was wir Erleuchtung nennen ist unsere geistige Urnatur. Es gibt niemanden, der diese Natur erlangt oder verliert. Deshalb: Wenn ein Lebewesen erleuchtet ist, dann sind alle anderen Lebewesen darin eingeschlossen» 

Diese Aussage zeigt, dass sich Vimalakirti in vollständigem Einklang mit dem Buddha befand. Im Diamant-Sutra fragte Subuthi den Buddha, wie «Söhne und Töchter ihr Denken beherrschen sollten, wenn sie den höchsten, vollkommen erwachten Geist zu erwecken suchen.» Der Buddha antwortete:

«Auf diese Weise beherrschen die Bodhisattvas ihr Denken: «Wie viele Arten von Lebewesen es auch geben mag, ob aus einem Ei oder einem mütterlichen Schoss geboren, aus Feuchtigkeit entstanden oder aus sich selbst heraus; ob diese Wesen nun Form haben oder keine Form, Wahrnehmungen haben oder keine Wahrnehmungen, oder ob von ihnen nicht gesagt werden kann, ob sie Wahrnehmungen haben oder nicht, wir müssen all diese Wesen zum endgültigen, vollständigen Nirvana führen, damit sie Befreiung finden können. Und wenn die unermessliche, unendlich grosse Anzahl der Wesen befreit ist, denken wir nicht, dass auch nur ein einziges Wesen befreit ist.

Warum ist das so? Wenn, Subhuti, ein Bodhisattva an der Vorstellung festhält, dass ein Selbst, eine Person, ein Lebewesen oder eine Lebensspanne existiere, dann ist es kein echter Bodhisattva.»

Diamant-Sutra
Im Vimalakirti-Sutra folgt nun eine ausführliche Auflistung von Merkmalen, die den Urzustand des Geistes im Vergleich zum gewöhnlichen Menschengeist charkterisieren. Ich gebe sie hier sprachlich vereinfacht und leicht gekürzt wieder, wobei Bodhi und Erleuchtung Synonyme sind:

Die absolute Urnatur des Geistes kennt kein Unterscheiden, weil sie ohne Erinnerung ist. 

Sie kennt keine Meinungen, weil sie ohne Denken ist, keine Begierde, weil sie ohne Sehnsucht ist, keine Reaktionen, weil sie ohne Festhalten und ohne Ablehnen ist.

Der erleuchtete Geist ist unparteiisch wie der grenzenlose Raum, weil er nichts mit dem denkenden Geist und seinen Objekten zu tun hat.

Erleuchtung entspringt deiner eigenen Urnatur. Sie ist eins mit dem So-Sein, weil das So-Sein in der unveränderlichen Urnatur aller Dinge ruht und über den Bedingungen von Geburt, Sein und Tod steht. 

Weil es in der Urnatur keine Zweiheit gibt, kenn Bodhi keine Konflikte und keine Versöhnung der Konflikte. 

Bodhi ist wahres Wissen, denn es erkennt die geistigen Aktivitäten aller Lebewesen. Der Kontakt mit gewohnheitsmässigen Schwierigkeiten wird beendet, das mentale Leiden hört auf.

Bodhi  ist das, was jenseits von Form und Gestalt existiert und keinen Namen hat – jenseits von Unruhe, denn es ist immer von sich aus gelassen; jenseits von rein und unrein. 

Bodhi ist wahre Stille, ohne Vergleich, unbeschreiblich, tiefgründig und subtil. Obwohl es unwissend ist, weiss es alles.

Was bedeutet «endgültige, nicht rückgängig zu machende» Erleuchtung?

Im Laufe eines Menschenlebens gibt es immer wieder Weckrufe und ab und zu Momente der Klarsicht und des Verstehens. Gewöhnlich verhallen sie so schnell, wie sie gekommen sind. Unsere Denkgewohnheiten nehmen sofort wieder überhand. Es bedarf einer ständigen, ununterbrochenen Achtsamkeit und grenzenlosen geistigen Offenheit, um das Gewahrsein der reinen Gegenwart zu erfassen. Und es bedarf der ständigen, ununterbrochenen Präsenz, um nicht immer wieder in die Unbewusstheit zurückzusinken.

Kein Ich-Mensch – also keiner von uns – hat die Kraft der ununterbrochenen Achtsamkeit im Kontakt mit der Welt bereits entwickelt. Keiner von uns ruht permanent in der Stille seines Geistes. Wir werden immer wieder vom Schlaf der Gewohnheiten übermannt. Vorläufig müssen wir noch glauben, dass es jedem Menschen im Prinzip möglich ist, endgültig im «Ungeborenen zu ruhen», wie es Meister Bankei ausgedrückt hatte. Beweisen können wir es uns nur selbst. Dafür praktizieren wir Meditation und geben nicht auf.   

Denn so wie ein steter Tropfen einen Stein höhlt oder wie man einen Eimer Tropfen um Tropfen bis zum Rand mit Wasser füllen kann, so tragen viele winzige Aha-Erlebnisse und Erkenntnisblitze dazu bei, mehr und mehr Licht ins Dunkle unserer Unwissenheit zu bringen. 

Im Lied von der Meditation (Zazen Wazan) von Hakuin Zenji steht: «Selbst ein einziges Sitzen in reinem Zazen löscht die zahllosen Irrtümer der Vergangenheit.»

Das bedeutet: In jedem Moment höchster Klarheit – in dem das Gewahrsein absolut ungetrübt ist – in einem solchen Moment der vollkommenen Selbstvergessenheit gibt es nichts mehr, das Verwirrung schafft. Das Ruhen in diesem freien und ungestörten Geisteszustand heisst in der Fachsprache Samādhi. Buddhaschaft ist der Zustand des immerwährenden Samādhis.  

Was kann ich tun?

Vimalakirti ermahnte Maitreya: 

«Führe die Devas nicht in die Irre, denn es gibt weder eine Entwicklung des höchsten Bodhi-Geistes noch ein Abfallen davon. Du solltest sie stattdessen dazu auffordern, sich von jeglichen dualistischen Ansichten über Erleuchtung, Bodhi, fernzuhalten.»

Das gilt auch für uns. Wir sollten uns nicht alles Mögliche einreden. Hand aufs Herz: Machen wir in der Regel nicht genau das, wenn wir z.B. stundenlang auf einem Kissen oder Stuhl sitzen, um zu meditieren? Wenn wir dabei aber mit unseren Devas über Sinn und Zweck, richtig-falsch, über Erfolg oder Misserfolg unseres Tuns diskutieren? Ob man sitzt, um ein «Koan zu lösen» oder ein Mantra murmelt oder ein Sutra rezitiert, solange man hofft und erwartet, dadurch Erleuchtung zu erlangen, wird man zwangsläufig bitter enttäuscht werden.

Denn eben dieses Bemühen, Suchen, Wollen ist es, das uns in die Irre führt. Wir wollen etwas finden, das es angeblich irgendwo im Geist gibt. Oder wir wollen etwas produzieren, das es angeblich in unserem Geist geben sollte, aber offenbar nicht gibt. Erleuchtung! 

Wahres Glück, wahrer Friede

Manche mögen einwenden: «Nein, ich will gar nicht die Erleuchtung. Ich will bloss ein glücklicheres Leben.» Schön und gut, aber das Glück von dem der Buddha und die anderen erfahrenen Weisen sprechen, ist leider ohne echte Erleuchtung nicht zu haben. Das heisst: ohne tiefgreifende Einsicht in das wahre Wesen des Lebens, des Geistes, des eigenen Denkens und des eigenen Tuns. Denn dort liegen die Ursachen für das Fehlen des Glücks in unserem Leben. 

Willst du in die wahre Quelle des inneren Friedens eintauchen, dann löse dich von den eigenen und den kollektiven Meinungen, Überzeugungen und Denkgewohnheiten. Denn sie sind es, die dir den Zugang dazu versperren.

Das war die Botschaft von Vimalakirti an Maitreya. Es ist dieselbe Botschaft, die viele Erleuchtete wie z.B. Bankei oder Hakuin in wunderbare Worte gefasst haben. Es lohnt sich, solche Worte immer wieder zu lesen, sich ihren reichhaltigen Geschmack sozusagen auf der Zunge vergehen zu lassen. Dann bleiben Worte nicht nur Worte, sondern eine nahrhafte Speise.

Vorausgesetzt, man vergisst nie, dass Worte nur Zeigefinger sind. Bleibe nicht am Finger kleben! Wende deinen Blick darüber hinaus, in die Richtung, in die der Finger zeigt. 

Welche Richtung ist das in deinem, in unserem Fall?

Vimalakirti Sutra 4.1

Vimalakirti Sutra 4.1

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