Vimalakirti Sutra 2.2

Die geschickte Anwendung von Hilfsmitteln (Teil 2)

Vimalakirti Sutra 2.2 – Im Kapitel 2.1 haben wir uns mit der Aussage beschäftigt: «Vimalakirti hatte die Wurzeln aller heilsamen Tugenden gepflanzt und nun ruhte er gelassen im Ungeschaffenen». Wir haben gesehen, dass die Begriffe das «Ungeschaffene» oder das «Ungeborene» Namen sind für das in Wirklichkeit namenlose Wesen aller Lebensformen. Dasselbe gilt für den im Zen gebrauchten Begriff Mu. Im diesem Vortrag komme ich noch einmal auf die Aussage zurück, mit einer etwas stärkeren Betonung auf der Praxis.

Welt der Namen und Formen

Für uns Menschen haben sämtliche wahrnehmbaren Dinge einen Namen; ohne Namen können wir gar nicht denken. Um es in der Sprache der indischen Philosophen zu sagen: Wir leben in einer Namen-und-Form-Welt (Skr. nāma-rupa-dāthu). Doch die Natur kommt ganz ohne Namen aus. Wenn man das wahre Wesen einmal erkannt hat, weiss man, dass die Namen nur Hüllen sind für die vergänglichen Gestaltungen des immerwährenden Lebens. 

Das heisst nicht, dass man die Wahrnehmung der Dinge leugnet oder deren Existenz überhaupt verneint. Im Gegenteil: Man erkennt und respektiert die kleinsten und grössten Lebensformen und achtet sie so, wie sie sind. Aber man haftet nicht an ihrem Aussehen. Man ist frei davon.

In diesem Sinn hatte Vimalakirti die lebendige Schöpfungskraft des Ungeborenen erkannt und behandelte alle Lebewesen wie seine Schwestern und Brüder. Er selbst hatte im Ungeborenen, im Mu, seine wahre Heimat gefunden. 

Von der Vorstellung zu Erfahrung

Das Lesen und Nachdenken über einen solchen Satz mag uns ein gewisses Verständnis vermitteln, worum es im Buddhismus geht, aber in der Zen-Schule geben wir uns nicht zufrieden mit dem Wissen oder dem Verstehen, das wir aus einem Sutra ableiten. Die zeitlose Wirklichkeit, von der auch das Vimalakirti-Sutra spricht, kann sich nur dann zeigen, wenn sie in der eigenen Auseinandersetzung, im aktuellen Alltag lebendig wird. 

Deshalb werden im Zen alle existentiellen Fragen im Lichte der Meditation betrachtet. Dabei dienen die Worte der Sutras als Wegweiser oder Schlüssel. Es ist wie beim Reisen. Zuerst schaut man sich die Destination und die Reiseroute auf einer Landkarte an und liest eventuell Berichte anderer, die schon dort waren. Man bekommt eine Vorstellung und fühlt sich angespornt, diese Reise auch zu unternehmen. Wenn man dann ankommt, ist die Landschaft und alles aber anders, als man es sich vorgestellt hat. Und wenn man nach der Rückkehr wieder auf die Karte schaut, weiss man aus eigener Erfahrung, wie es ist. Mit diesem Vergleich könnte man den Sinn und Zweck vom Sutra-Studium vergleichen. Man liest, studiert, meditiert gründlich bis es zu einem «Aha» kommt. Nun weiss man, wovon das Sutra spricht.   

Den Gedankenfaden durchschneiden

Um die eigene Erfahrung zu fördern, nutzten die alten Meditationsmeister das Werkzeug der gezielten Konfrontation ihrer Schüler in einer gegebenen Situation. Sie stellten eine Frage oder machten eine Bemerkung, die völlig spontan entstand und so direkt und schnell über ihre Lippen kam, dass die Schüler völlig überrascht waren und nicht mehr denken konnten. In einem solchen Moment des Gedankenstillstandes gibt es die Chance für das Aufblitzen einer Erkenntnis – oh!  In diesem Augenblick sieht man «es» oder man sieht «es» nicht – wenn die Gedanken wieder einsetzen, ist es schon zu spät.   

Das Durchschneiden der Gedankenkette ist die entscheidende Funktion der spontanen Fragen und Äusserungen in der Geistesschulung des Zen. Später wurden einige davon als sogenannte Koans gesammelt und überliefert. In der Hand eines erfahrenen Meisters kann dieses Werkzeug die Barriere durchbrechen, die den verwirrten, trüben Geist der Schüler von seiner ursprünglichen Klarheit trennt. Und so, wie in der Justiz bestimmte Fälle als Orientierungshilfe oder als Massstab für die Rechtsprechung gelten, so gelten Koans berühmter Meister als Orientierungshilfe und Massstab für die echte, authentische Erkenntnis der Wirklichkeit. Der Begriff Koan wird deshalb auch als «öffentlicher Fall» oder «Präzedenzfall» mit allgemein gültigem Wahrheitsgehalt interpretiert.

In der westlichen Welt sind die Koans vielerorts jedoch zu einer Art «spiritueller Rätsel» verkommen. Die Adepten machen sich einen Sport daraus, sie zu «lösen» und sind stolz, wenn dies «gelungen» ist. Aber das ist nicht die ursprüngliche Bedeutung dieses einzigartigen Instrumentes –  denn, wenn es eine intellektuelle Lösung gibt, ist sein Zweck verfehlt. 

Ohne Worte – zeige es!

Zen-Lehrer geben aus Prinzip niemals eine Antwort auf ihre Fragen – und keine Erklärungen. Man ist aufgefordert, die Antwort in sich selbst zu finden. Denn nur, was man selbst erfahren hat, ist gültig. Selbst der Buddha hat seine Anhänger angehalten, ihm nichts zu glauben, sondern alles selbst zu überprüfen. 

Und so ist es auch mit der Frage des Ungeborenen. Man soll selber erfahren, was es ist. Das klassische überlieferte Koan zu diesem Thema stammt aus dem chinesischen Taoismus und lautet:   

«Was ist dein Urantlitz vor deiner Geburt». Oder anders übersetzt: «Bevor Vater und Mutter dich gezeugt haben, was war dein Urwesen?» Oder etwas salopper ausgedrückt: «Wer bist du in Wirklichkeit?» 

Dieses Gesicht, das uns zueigen ist, das alle Aussenstehenden mit unserem Namen verbinden und dessen Abbild im Pass unsere Identität besiegelt – dieses Antlitz haben wir mit den Genen von Vater und Mutter bekommen. Es hat zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase mit zwei Nasenlöchern und einen Mund. Es ist das Gesicht, das wir sehen, wenn wir in den Spiegel schauen und zu dem wir sagen: «Das bin ich.» Dieses Gesicht wurde zusammen mit dem ganzen Körper eines Tages geboren, verändert sich ständig und wird eines Tages nicht mehr sein. Solange wir dieses Gesicht haben, existieren wir. 

Doch was ist vorher? Gibt es überhaupt ein Vorher?

Vor Vater und Mutter

Wenn man in der individuellen Begegnung mit dem Lehrer (Japanisch: Dokusan) mit dieser Frage konfrontiert ist, kommt man mit allem Möglichen an; man gibt diese und jene Erklärung, stellt diese und jene Vermutung an, vertritt diese und jene Theorie, versucht clever zu sein oder schweigt verbissen. All dies wird vom Lehrer zur Kenntnis genommen und … abgelehnt. 

Das, was nichts mit Geburt und Tod zu schaffen hat, hat keine Eigenschaften. Das, was jenseits von Geburt und Tod existiert, hat keine Identität und keinen Namen. Wenn man darüber spricht, muss man natürlich ein Wort dafür finden. Aber das Wort ist es nicht. Man muss die Wirklichkeit erkennen, und erst dann kann man ein passendes Wort wählen. Also finde es ohne Worte! 

Die Frage «vor Vater und Mutter» ist natürlich nicht im zeitlichen Sinn gemeint. Wir fragen nicht nach der Vorgeschichte unseren Eltern und Grosseltern, wir fragen auch nicht nach der Entwicklungstheorie von Darwin oder nach früheren Leben. In diesem Sinn unterscheidet sich die östliche Geisteswissenschaft von der westlichen Naturwissenschaft. Beide suchen nach dem Ursprung des Lebens, aber sie tun es auf diametral entgegengesetzten Wegen: Die einen suchen aussen in Raum und Zeit, die andern schauen nach innen.  

Was ist das wesentliche Sein unabhängig von meiner gegenwärtigen, körperlichen Realität? Was bin ich in aller Wirklichkeit? – Bin ich mein Körper? Meine Gedanken? Meine Gefühle? – Sicherlich nicht. Und doch: Ohne den Körper und das Bewusstsein mit denen ich geboren bin, weiss ich nichts von mir selbst. 

Da unsere körperliche Realität von der Dualität Geburt-und-Tod definiert ist, muss das ursprüngliche Wesen jenseits von der körperbedingten Zweiheit sein. Deshalb die Formulierung «Vor (der fundamentalen Zweiheit von) Vater und Mutter …». Doch kann man diese Frage überhaupt beantworten? Kann man etwas wissen, das weder gesehen noch gehört noch gefühlt, noch geschmeckt, noch getastet noch gedacht werden kann? Kann man etwas aussagen über etwas, das nicht an die Körperlichkeit gebunden ist?

Es gibt eine Antwort, aber sie kommt nicht durch das Denken. Man muss eine andere Türe öffnen – und sie in Stille und vollkommen geistiger Offenheit durchschreiten. 

Bodhichitta

Vimalakirti hatte das Gesicht seines ungeschaffenen Urwesens erkannt und lebte deshalb völlig angstfrei. Er konnte sich in jeder Situation zurechtfinden. Und da er während zahllosen Lebensspannen Bodhichitta entwickelt und vervollkommnet hatte, konnte er alle Wesen verstehen. Das Sanskritwort Bodhichitta bezeichnet den Wunsch, vollkommene Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu erlangen. Das ist die wahrhaftige unumstössliche Motivation eines Bodhisattvas, dem Buddha-Weg zu folgen. Ohne Bodhichitta sind alle moralisch-ethischen Aspekte des Buddha-Weges – sittlicher Lebenswandel, Einhalten von Geboten, Studium, Wohltätigkeit, Meditation – reine Formalität. Das heisst, wenn die Praxis nicht von vornherein auf das überpersönliche Wohl aller ausgerichtet ist, dann bleibt sie unter dem Diktat des egozentrischen Verlangens nach persönlichem Glück oder Selbstoptimierung. 

Aus diesem Grund ist es für alle, die nach echter Erlösung von ihren Sorgen und Ängsten suchen und den Spuren der erwachten Ahnen folgen wollen, absolut notwendig, sich der eigenen Motivation bewusst zu werden und alle egoistischen Elemente daraus zu entfernen. Im Buddhismus geschieht dies durch die sogenannte Zufluchtnahme zu Buddha, Dharma und Sangha. Praktisch bedeutet dies, dass man sich erstens nach dem eigenen innewohnenden Wissen und Gewissen ausrichtet, zweitens die Lehren und Anleitungen Buddhas und seiner Nachfolger studiert und anwendet und drittens immer in Beziehung zum ganzen Leben mit all seinen Formen denkt und handelt.  

Natürliche Tugenden

Vimalakirti war nicht nur frei von Angst, sondern auch frei von sich selbst. Sein Entschluss, in Vaisali zu leben und allen Menschen zur Befreiung von ihren Leiden zu verhelfen, war nicht vom Wunsch nach Ansehen und Erfolg motiviert. Und deshalb gelangte er zu hohem Ansehen und war in allem, was er tat, erfolgreich. Die Liste seiner Tugenden ist dementsprechend lang:

Er benutzte seinen unbeschränkten Reichtum, um die Armen zu unterstützen. Durch das Befolgen der Sittenregeln war er ein Beispiel für Gewissenhaftigkeit. Seine Geduld und Selbstkontrolle besänftigte Zornige und Gewalttätige. Seine unerschöpfliche Energie wirkte belebend auf die Trägen. Obwohl er in einem weltlichen Haushalt lebte, bedeute ihm Besitz nichts und er hielt Mass. Er mischte sich unter alle Arten von Menschen und wurde von ihnen gleichermassen verehrt. In den Strassen führte er anregende Gespräche mit zufälligen Passanten und bei den gelegentlichen Besuchen in Bordellen und Spelunken zeigte er Respekt für die Belegschaft und stand ihr mit Rat und Tat bei. Vor allem aber praktizierte er stets Konzentration, Achtsamkeit und Meditation, um seine eigene Klarsicht zu bewahren. Auf diese Weise half er seinen Mitmenschen wo immer er konnte. 

Absichtsloses Wirken

Wenn wir solche Lobreden in einem Sutra lesen, regt sich vielleicht Bewunderung und Hochachtung vor dem Menschen, den sie betreffen. Aber Bewunderung wird immer von einer Art Minderwertigkeitskomplex begleitet. Denn man vergleicht sich mit der beschriebenen Person und kommt dabei selbst «schlechter weg». Man glaubt, man könnte selbst nie und nimmer so gut sein, oder, was noch schlimmer ist, man nimmt sich vor, auch so gut zu werden und strengt sich furchtbar an dabei. 

Doch Vimalakirtis Tugenden, die so wortreich beschrieben werden, sind im Grunde nichts anderes, als das natürliche Verhalten eines Menschen, der mit sich und der Welt in Ordnung ist und es nicht nötig hat, sich selbst immer in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn er gelesen hätte, was hier über ihn geschrieben steht, hätte er wahrscheinlich gelacht oder sich gewundert.

Man sollte nicht meinen, Vimalakirti hätte ständig daran gedacht, Gutes zu tun. Im Gegenteil, ich sehe ihn als einen normalen, allerdings weisen Menschen, der wach und achtsam seinem Tagwerk nachging. Ich glaube nicht, dass er sich sagte: «Heute gehe ich in eine Kneipe, um die Alkoholiker zu bekehren», oder: «Heute werde den Menschen Sittlichkeit und Achtsamkeit beibringen.» Er war einfach sich selbst, ohne Absicht, ohne Pläne; und da er weise und erleuchtet war, tat seine Präsenz ihre wohltuende Wirkung überall ganz von selbst.

Im Diamant-Sutra wird dieser Seinszustand folgendermassen dargestellt:

«Ein Bodhisattva denkt nicht daran, andere Lebewesen zu befreien und deshalb befreit er unendlich viele Lebewesen.» 

Ohne Anstrengung, ohne Absicht. Er folgt einfach den natürlichen Regungen seines wachen Geistes und fühlenden Herzens. 

Gedankenspiele

«Aber das Leben ist doch eine ernsthafte Sache, wir müssen uns doch anstrengen, keine Fehler zu machen. Es ist doch unsere Pflicht, Gutes zu tun. Andernfalls kommen wir in die Hölle (wo und was auch immer das sein soll…) Wir dürfen doch nicht einfach in den Tag hineinleben.» Solches oder Ähnliches mag die moralische Stimme in uns einwenden. Doch dann frage ich: Wer ist es, der sich bemühen will? Wer ist es, der gut sein möchte? 

Die Antwort lautet – wenn sie ehrlich ist: «Ich». 

Dann frage ich weiter: «Und warum musst du dich um Gut-sein bemühen?» 

Auf diese Frage wird vermutlich ein ganzer Katalog von «man soll …»,  «man muss …», «man darf nicht. …» zur  Verfügung stehen. Die Musik dazu liefert das selbstquälerische Gefühl, nie ganz zu genügen. Aber wer ist der Richter in dieser Sache? 

Der Richter bin ich selbst. In meiner gespaltenen Ich-Identität stelle ich ständig Vergleiche her und urteile über mich selbst und andere: «Ich will so gut sein wie So-und-so; ich möchte von allen Menschen geliebt und geschätzt werden wie So-und-so. Ich möchte weise und gütig sein wie So-und-so». Und dann kommt der Selbstverteidiger und sagt: «Aber mein Ego erlaubt es nicht, es will einfach nicht so, wie ich. Immer wieder bin ich schwach, immer wieder tue oder sage ich etwas Falsches.» 

Und so schäme oder hasse ich mich dafür, dass ich meine Erwartungen nicht erfülle und gebe dem Ego die Schuld dafür. Ich und Ego, Ego und ich in ständigem Widerstreit. Ist das nicht absurd? 

Absurd ja, aber leider normal. 

Ideelle Fehlschlüsse

Das westliche moralische Denken lebt mit dem Glauben an irgendein Ideal, dem der Mensch gerecht werden sollte. Wir reden uns ein, man könne oder müsse sich selbst und die Welt zum Guten führen, indem man sich einem verinnerlichten äusseren Ideal anpasst und unterwirft  –  religiös, philosophisch, politisch.  Doch das ist fatal. Denn es ist der zum Scheitern verurteilte Zirkelschluss eines verwirrten Denkens. Völlig abgetrennt von der Realität zerteilt man sich selbst in zwei handelnde Ichs. Weil das unreelle Ideal nie realisiert werden kann, gibt das eine Ich, dem anderen die Schuld, dass es nicht so handelt, wie es denkt, dass es handeln sollte.

Das Bibelwort «Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach» ist wohl die älteste Ausrede der Menschheit für das Ausbleiben einer nachhaltigen psychologischen Wandlung im Verhalten – weg von der egozentrischen Besorgnis hin zur Fürsorge für alle.   

Die zweite ideelle Fehlschluss besteht im Glauben, man könne die Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken so manipulieren, dass man immer das «Gute» hat und bekommt, das man sich wünscht. Dieses Denken drückt sich aus in Sätzen wie: Man muss nur wollen … zum richtigen Gott beten  … richtige Rituale vollziehen … jeden Sonntag in die Kirche oder zum Meditieren gehen.  

Solch verdrehtes «gutes» Handeln endet unweigerlich in Frustration und bringt das Gegenteil ins Spiel. Unser natürliches Wesen weiss das, aber wir machen es uns nicht bewusst. Manchmal nutzt das natürliche Wissen, die sogenannte Volksseele, Wege, diesen Mangel zu beheben und schafft sich Märchen und Legenden zum besagten Thema.   

Gold und Pech

Da ist zum Beispiel das Märchen von Frau Holle. Es handelt von zwei jungen Frauen namens Marie. Die eine war die ungeliebte Stieftochter einer unzufriedenen Frau, die andere deren leibliche Tochter. Die Stieftochter, wurde ständig schikaniert, musste alle Hausarbeiten verrichten, ohne je Dank oder Anerkennung dafür zu erhalten, während die leibliche Tochter über alle Massen geliebt und verwöhnt wurde.

Eines Tages fiel die Stief-Marie bei der Arbeit in einen tiefen Brunnen und landete in einem mysteriösen Land. Da gab es zum Beispiel reife Äpfel an den Bäumen, die mit menschlicher Stimme darum baten, gepflückt werden. Also pflückte Marie die Äpfel. Gebackene Brote wollten aus dem Ofen genommen werden und Marie nahm sie heraus. Schliesslich kam sie zur Hütte von Frau Holle und wurde freundlich empfangen. Viele Tage lang half Marie Frau Holle beim Schütteln von Federdecken, worauf es in der Menschenwelt schneite. Nachdem die Zeit um war, wies ihr Frau Holle den Weg nach Hause. An der Grenze zur Menschenwelt stand ein Tor.  Als Marie  es durchschritt, wurde ihr Körper mit reinem Gold übergossen. Von nun an hiess sie Goldmarie.

Als die Stiefmutter das viele Gold sah, schickte sie ihre Tochter Marie unverzüglich in den Brunnen. Auch sie sollte voller Gold nach Hause kommen. Missmutig machte sich Marie – die nie noch nie gehorchen musste – auf den Weg. Auch sie fiel in das mysteriöse Land. Doch sie sah die Äpfel nicht und hörte die Brote nicht. Verärgert streifte sie umher und kam schliesslich zur Hütte von Frau Holle und wurde freundlich empfangen. Aber sie schüttelte die Decken voller Widerwillen. Man kann ihre Gedanken förmlich hören, nicht wahr?: «Warum muss gerade ich diese Arbeiten tun?» «Das ist unter meiner Würde.» usw. 

Auf dem Heimweg kam auch sie zum magischen Tor. Doch als sie es durchschritt, fiel nicht Gold, sondern schwarzes Pech auf sie herab. Von nun an hiess sie Pechmarie.

Lass ab von denken und wollen!

Was hat diese Märchen mit Vimalakirti zu tun? Nichts! Aber man kann darin die grundlegende Wahrheit erkennen, dass echte Tugend nicht aus einer Absicht oder Idee kommt, sondern aus der natürlichen Beziehung zu allem, was lebt.  Wenn man gar nicht darüber nachdenkt, sondern einfach tut, was zu tun ist, wird alles von selbst gut. 

Dieses Tun ist ein Nicht-Tun. Es spriesst aus der absichtslosen, ichlosen Weisheit, die sich in einem klaren Geist und warmen Herzen ganz natürlich offenbart. Um noch einmal das Diamant-Stura zu zitieren:

«Wenn ein Bodhisattva sich in Freigebigkeit übt, dann macht er dies von keinem Objekt abhängig. Das heisst, er stützt sich auf keine Form, keinen Klang, keinen Geruch, keinen Geschmack, kein Tasten und kein Dharma, um Freigebigkeit zu üben. Das ist der Geist, aus dem heraus der Bodhisattva Freigebigkeit praktiziert – ein Geist, der sich nicht auf Äusserlichkeiten stützt. Warum? Wenn jemand Freigebigkeit praktiziert, ohne Absicht und Erwartung auf Lohn, dann ist das Glück, das daraus entspringt, weder vorstellbar noch ermessbar»

Vimalakirti war also weder ein Übermensch noch ein Heiliger. Er war ein Mensch, dessen Geist durch konsequente und geduldige Dharma-Praxis von allen selbstzentrierten Vorstellungen und Erwartungen geläutert war. Also konnte er seine Lebenskraft voll und frei für das einsetzen, was ihm am Herzen lag, nämlich, dass alle Lebewesen echtes Glück erfahren mögen.

Gibt es etwas, das uns hindert, es Vimalakirti gleich zu tun? 

Glück erfahren mögen.

Gibt es etwas, das uns hindert, es Vimalakirti gleich zu tun? 

Vimalakirti Sutra: 2.1.2

Vimalakirti Sutra 2.2

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