Stille Wasser

Sille Wasser – AWH, Meditationswoche August 2021

Stille Wasser – Dass wir uns hier an einem so wunderbaren Ort treffen können, um eine Auszeit zu nehmen vom mentalen Chaos in der Welt, wo zur Zeit ganze Landstriche im Wasser ertrinken oder im Feuer verbrennen, – das ist ein Privileg, das wir nicht hoch genug schätzen können. In meinen Augen ist es mehr als das; es ist eine Aufforderung, eine Verpflichtung und eine Verantwortung, diese Gelegenheit mit vollem Einsatz zu nutzen, nicht nur für uns selbst, sondern für alle Lebewesen, mit denen wir es zu tun haben. Damit wir am Ende der Woche mit mehr Verständnis und Weisheit zurückkehren und etwas mehr Licht und Menschlichkeit in unsere Welt hinaustragen.

Der Seerosen-Teich

Im Garten dieses Hauses gibt es einen wunderschönen Teich. Sein Wasser ist in der Regel ruhig und dunkel. Es spiegelt den Himmel und die Wolken und alles andere, das ihn umgibt. Der Teich ist voller Leben.

Im Laufe der Woche werdet ihr viel Gelegenheit haben, dieses Leben zu betrachten. Da gibt es Frösche aller Art, einmal hüpft da einer ins Wasser, – plupp –,  einmal springt dort einer aufs Land! Einmal sitzt einer auf einem Seerosenblatt, einmal schwimmt einer vorbei. Frösche, Libellen, Schmetterlinge, Blumen und Bäume, sie alle vollziehen den grossen Tanz des Lebens.

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Die Seerosenblüten sind heute noch geschlossen. In anderen Jahren sahen wir ihre vollentfaltete Pracht. Ihre Wurzeln sind tief im sumpfigen Boden des Teiches verborgen. Von der Sonnenwärme gelockt, wachsen ihre Triebe aus der Dunkelheit ans Licht. Kaum hat der Stängel die Wasseroberfläche durchbrochen, bilden sich grosse, grüne Blätter – nicht im Wasser, nicht über dem Wasser, sondern gerade auf dem Wasser.

In diesen grünenBlättern findet nun eine Wandlung statt: Luft, Sonne, Licht, Wasser vereinigen sich zu Chlorophyll, der grundlegenden Nahrung unserer Welt. In vollendeter Einheit mit Himmel und Erde geben die Blätter Schutz und Halt für die Frösche und die anderen Lebewesen in und um den Teich.

Dann, wenn die Zeit reif ist, öffnen sich die Blüten. In unserer Empfindung ist die Lotusblüte «strahlend weiss» oder «rein». Denn sie wird von nichts befleckt, ist niemals schmutzig. Blatt und Blüte leben im Wasser, werden aber niemals nass.

Frösche und Seerosen leben gleichermassen zwischen Himmel und Erde. Sie ernähren sich von Wasser, Erde und Luft. Aber sie saugen sich nicht voll, wie ein Schwamm; das Wasser bleibt nicht an ihnen kleben. Sie entnehmen dem Wasser das, was sie zum Leben brauchen, bewegen sich aber frei. Womit ich sagen will: Das Wasser ist überall dasselbe, doch die Wesen, die in und aus ihm heraus wachsen, sind individuell verschieden. Wir alle leben vom einen Wasser, unter der einen Sonne, atmen die eine Luft, sind aber nicht identisch damit. 

Natürlich gibt es ab und zu Wellen im Teich. Wenn man einen Stein hinein wirft, wenn ein Frosch hinein hüpft – plupp, – dann gibt es kleine oder grössere W Aber selbst wenn Regentropfen in den Teich prasseln, der Teich selbst bleibt still. Eingebettet in die Erde und bestrahlt vom Licht der Sonne am Himmel ruht er in sich selbst. 

Der Teich als Sinnbild

Jedes Mal wenn ich hier ins Seminarhaus komme für einen Retreat wird mir dieser Teich zum Sinnbild und Vorbild. Denn es kommt mir vor, als ob hier verschiedene Bäche aus vielen Richtungen zusammenfliessen. und sich hier vereinigen, wie in einem Teich. Jeder von uns wurde von seinem eigenen Lebensstrom hierher gespült. Und nun sitzen wir hier versammelt in einem Raum, wie in einem Pool.

Und nun lasst uns zu einem ruhigen, tiefen Teich werden. Oder besser, nicht werden, sondern sein! Nicht morgen, nicht übermorgen – jetzt gleich! Lasst uns ein grosser, tiefer, ruhiger, lebendiger Teich sein! 

Inzwischen haben wohl alle gemerkt, dass der Teich unseren eigenen Geisteszustand symbolisiert. Das würde bedeuten, dass unsere verschiedenen Strömungen zur Ruhe kommen und eins werden, nicht wahr? Noch ist es nicht soweit. Noch ist das Wasser voller Unruhe und aufgewühlt.

Was ist gemeint mit «eins-werden»? Sollen wir jetzt unsere trüben Wasser vermischen und und gegenseitig bestätigen: «Wir sind eins; deine Sorgen sind meine Sorgen, meine Sorgen sind deine Sorgen, ich tröste dich und du tröstest mich?» Würde das die Ruhe im Teich fördern oder doch eher verhindern? Kann ein aufgewühltes Gemüt ein anderes aufgewühltes Gemüt besänftigen?

Nein, Ruhe kommt nicht durch Unruhe zu Stande. Der Teich zeigt uns einen anderen Weg. Im Teich kommt das Wasser zur Ruhe, in dem es aufhört, so schnell zu fliessen. Im Teich wird das Wasser klar, weil sich die Dinge, die es trüben, setzen. Kurz, weil die Wellen und Wirbel aufhören.

Natürlich gibt es ab und zu Wellen im Teich. Wenn man einen Stein hinein wirft, wenn ein Frosch hinein hüpft – plupp, – dann gibt es kleine oder grössere Wellen. Selbst wenn Regentropfen in den Teich prasseln, der Teich selbst bleibt still. Eingebettet in die Erde und das Licht von der Sonne am Himmel ruht er in sich selbst. 

Ruhen in sich selbst

Wir sind angekommen mit unseren Sorgen, Ängsten, Erwartungen, Vorsätzen, Wünschen, Vorbehalten, Erinnerungen und was sich sonst noch so in unserem Gemüt befindet. All dies haben wir mit unserem Gepäck mitgeschleppt.

Statt dass wir uns jetzt mit diesem Gepäck beschäftigen, lasst und diese individuellen Sorgen und Ängste von gestern und vorgestern ablegen. Bringt sie nicht in dieses Haus. Lasst sie draussen bei den Schuhen oder in euren Autos. Wenn man sie dann am Ende der Woche unbedingt wieder haben will, kann man sie ja wieder auflesen. Aber in der Zwischenzeit wollen wir uns nicht darum kümmern. Mit anderen Worten:

Hör einfach auf, das zu tun, was du sonst immer tust, nämlich dich mit deinen Gedanken zu beschäftigen. 

Hör auf, dich in der eigenen Gedankenwelt im Kreis zu drehen mit dem immer gleichen und ewigen«Ich soll, ich soll nicht; ich muss, ich muss nicht; ich will, ich will nicht …»

Hör auf, innerlich zu quasseln. 

Atme all dies einmal kräftig aus.

(Alle atmen ein paar Mal kräftig ein und aus.) 

Richtig sitzen

Setz dich hin! Aber richtig! Häng nicht schief und plump auf dem Kissen oder auf dem Stuhl. Spüre den Hintern auf der Unterlage und richte die Wirbelsäule vom Steissbein aus auf; lass die Schultern wie Flügel hängen, entspannt aber doch voller Energie, jederzeit zum Fliegen bereit. Hals und Kopf bauen sich als natürliche Verlängerung der Wirbelsäule weich und sanft auf den Schultern auf. 

Wenn man diese Haltung einmal «gefunden» hat, und nicht gleich wieder aufgibt, dann kann man gar nicht anders, als auf den eigenen Atem aufmerksam zu werden. Probiert dies aus. Jetzt!

(Pause)

Und jetzt hört mir bitte ganz sorgfältig gut zu und macht sogleich, was ich sage.  Ich weiss nicht, wie oft …, ob und überhaupt ich die nun folgende Grundlage für die Sitzmeditation noch einmal wiederhole. 

(A. spricht langsam, mit langen Pausen.)

Nimm Kontakt auf mit dem Atem! Das heisst: Richte deine Aufmerksamkeit freundlich zum Atem und erspüre ihn: Wie ist die Atembewegung gerade jetzt! Ohne etwas flicken oder ändern zu wollen. – Nur schauen, kennen lernen. So wie wenn du am Abend nach Hause kommst und deine Mitbewohner begrüsst: «Ah, hallo, ich bin auch wieder da, wie geht’s?» Schaut einfach bloss, was ist!

Denk nicht daran, wie der Atem oder die Meditation gestern war oder früher. «Oh, ich weiss doch, wie das bei mir ist.» Nein, nicht Vergangenheit, nicht Erinnerung, nur jetzt! Nur schauen und spüren, ein Schau-Spüren, ein Spür-Schauen. 

Also, da ist sicher mal Einatem und Ausatem. Der eine geht in den anderen über. Wenn der Einatem fertig ist, wird er automatisch zum Ausatem… Und wenn der Ausatem fertig ist, wird er automatisch zu einem Einatem. 

Das ist nicht nur bei uns Menschen so, das ist bei allen Kreaturen, die leben, dasselbe. In der einen oder anderen Form atmen wir alle. 

Atem = Weisheit des Körpers

Wieso weiss ich überhaupt, dass ich atme? Warum brauche ich zwei Wörter für eine Tatsache? Warum unterscheide ich zwei Bewegungen namens Ausatem bzw. Einatmen? Woher kommt dieses Wissen? Nicht aus der Schule! Das sagt mir mein Körper. Und wie sagt er mir das? Was sind die körperlichen Signale, die mir sagen: Jetzt atme ich ein und jetzt atme ich aus?

Aber da es keine Sache von ich ist, ist es viel besser zu fragen: Was geschieht beim Einatem, was geschieht beim Ausatem? Es atmet ein, es atmet aus. Der eine Atem – ein und aus. Wie merke ich das?

Spüre ich es in der Brust, im Bauch, in der Nase, in der Schulter, im Rücken? Wo? Oder spüre ich es überhaupt nicht? 

Wenn du nichts spüren oder nichts denken kannst, mach dir keine Sorgen! Der Atem geschieht ohnehin. Niemand muss lernen zu atmen. 

Dies hier ist bloss eine vielleicht einmalige Gelegenheit, dir deines ganz eigenen Lebenspulses gewahr zu werden und ihn kennen zu lernen. Denn jedes Leben und jede Meditation fängt mit dem Atem an. 

Als du als kleines Baby zur Welt kamst, war dein Atem sofort voll und ganz da, und er geschah hauptsächlich im Bauch. Das kleine Bäuchlein eines Babys dehnt sich und zieht sich zusammen, das Baby atmet tief vom Bauch aus. Manchmal ist der Atem ganz sanft, wenn es schläft, manchmal ein bisschen kräftiger, wenn es mit den Händchen spielt, mit den Beinen zappelt, und er wird äusserst kräftig, wenn es brüllt. 

Kannst du diese Dynamik spüren? Es ist noch immer so; der Atem passt sich jeder Lebenslage an – egal ob es äussere oder inneren Regungen sind, er«weiss», was zu tun ist.

°°°

Wenn man den Atem nicht mit den eigenen Vorstellungen und Wünschen manipuliert, findet er seinen eigenen Rhythmus. Das ist der springende Punkt! Lass den Atem seinen eigenen Rhythmus finden. Mische dich nicht ein! 

Dieser Atem ist unser bester Freund, unsere beste Freundin, hat uns noch nie verlassen. Ist immer da, ob wir lachen oder weinen oder herumrennen oder sitzen oder schlafen oder ohnmächtig sind. Atem ist immer da. Sonst wären wir nicht da. Und irgendwann – schsch – kommt der letzte Ausatem, und dann ist es vorbei mit dieser individuellen Gestalt. 

Deshalb: Wenn du wissen willst, wer du bist, kehre zuerst einmal zurück zu deinem Ursprung, deinem Atem! 

Es gibt nur ein Wasser, nur einen Geist

In diesem Tun, in diesem Atem sind wir ganz natürlich eins. Es ist der eine Geist, das eine Sein, das uns durchströmt, umfängt. Derselbe Geist, dasselbe Sein, das gerade jetzt in unzähligen anderen Lebewesen ein- und ausatmet, ohne Unterschied und ohne Grenzen. 

Gewöhnlich sind wir uns der Unermesslichkeit unseres Daseins nicht gewahr. Wir gleichen eher kleinen, abgestandenen Tümpeln, ohne Verbindung zum grossen, fliessenden Wasser. Wir leben alle in unserem eigenen kleinen Pool, schmoren in der eigenen Suppe. Ohne richtigen Abfluss und ohne frischen Zufluss, die Leitungen sind verstopft. Nichtsdestotrotz ist es der gleiche Geist, das gleiche Wasser in uns.

In dieser Woche wollen unsere verstopften Verbindungsgänge zum Grossen wieder öffnen, das stecken gebliebene Material heraus schwemmen. Aber wir tun das nicht, indem wir dauernd darüber reden, oder darüber nachdenken, uns dauernd vorbeten: «Ich muss jetzt aufräumen, ich muss jetzt pushen, ich muss alles negative Zeug in mir loswerden; wenn ich bloss wüsste, warum ich so bin und wer Schuld daran trägt.»  

Im Gegenteil, machen wir es doch wie der Teich: Machen wir gar nichts! Denn wenn man das Wasser in Ruhe lässt, reinigt er sich selbst. Wir wissen das aus der Natur, und viele Menschen haben es in eigener Regie entdeckt. 

Denn das Wasser ist immer rein. Das, was es schmutzig erscheinen lässt, sind die vielen Dinge, die darin herum schwimmen. Es sind ausnahmslos Dinge, die das Leben selbst erzeugt hat. Sie sind allesamt vergänglich, haben sich aber noch nicht vollständig aufgelöst: Überbleibsel von welkem Laub, zerfallenen Steinen, gefallenem Holz, toten Tieren. Ebenso ist das, was unseren Geist trübt, nichts anderes als Überbleibsel von vergangenen Erlebnissen, die das Leben mit sich gebracht hat. Erinnerungen an dieses und jenes, lauter unverdaute Eindrücke, noch nicht aufgelöste Gefühlsregungen.

Im trüben Wasser wühlen

Statt all dies dem reinigenden Wasser zu überlassen, haften wir daran und halten es fest. Wir wollen es nicht ziehen lassen, es darf sich nicht setzen. Wir verwechseln die Erinnerungen mit uns selbst: Das bin ich, das habe ich, das ist meine Identität.  

Und so wühlen wir im trüben Wasser und versuchen dauern, die abgestorbenen Teilchen, wieder zusammenzusetzen oder neu zu ordnen. Wir denken über unser «Ich» nach und vergleichen es mit dem, was wir denken, das «Ich» sein oder haben sollte. Und wir sind nie zufrieden: «Oh, das darf nicht sein. Ich sollte nicht so sein. Ich soll nicht denken, ich soll mich nicht ablenken lassen. Ich bin falsch! Ich bin dumm! Ich bin nicht fähig, alle anderen können das besser.»

Oder wir resignieren und trösten uns selbst: «Ich muss halt warten, bis ich irgendwann den Segen bekomme von irgendwem. Ich muss nach Japan oder China oder Tibet ins Kloster gehen. Dort werde ich den Frieden bekommen von denen, die ihn schon gefunden haben.» 

Wenn euch solche Gedanken bekannt sind – und ich bin ziemlich sicher, dass sie es sind –  dann gebt sie her. Blast sie richtig weg! Atmet sie aus! Denn das ist Quatsch! Das ist richtiger Quatsch! 

Der Teich wird nicht still und klar, wenn man in ihm herumwühlt. 

Selbstanklage, Selbstoptimierung, Selbstverbesserung, das hat hier keinen Platz. Atmet es aus, überlasst es dem Wasser, mit solchen Gedankenpartikeln fertig zu werden! Kümmert euch nicht mehr darum! 

Statt nein, sag doch mal ja. Es ist wie es ist. Und dann sei still und schweige.

Dann kannst du vielleicht endlich anfangen zu erfahren, was Gewahrsein ist. 

Die Stille des Herzens bewahren

Wir haben jetzt eine ganze Woche Zeit, zu erforschen, was Meditation wirklich ist. Dabei kann uns der Garten hier eine grosse Hilfe sein. Wir sind nicht wesentlich verschieden von den Lotuspflanzen im Teich und den Bäumen darum herum. Auch unsere Wurzeln sind im Dunkeln verborgen, auch unser Geist strebt nach dem Licht. Auch wir leben von Sonne, Wasser, Erde und Luft.  Auch unser Geist ist wie das Wasser im Teich, von Natur aus klar und voller Leben! Und dieses Wasser weist nichts ab und hält nichts fest.

Setzen wir uns hin und bleiben einfach sitzen. Lassen wir uns von nichts und niemandem ablenken. Hören wir auf, innerlich herumzurennen. Bleiben wir fest und stabil da, wo wir sind. Lassen wir Gedanken und Erinnerungsbilder vorbeiziehen, wie Wolken am Himmel. Verursachen wir keinen Sturm mit schönen oder hässlichen Gefühlsausbrüchen!  Machen wir uns keine Sorgen über richtig oder falsch. Vergeuden wir keine Zeit mit Träumereien und unnützem Geschwätz. Sitzen wir einfach in wacher Präsenz – verankert im ruhigen, tiefen Atem – und lauschen auf die Stille in und um uns herum. 

Und lassen wir uns nicht täuschen: Vorbeifahrende Autos und die Motorsäge in Nachbars Garten können der wahren, allgegenwärtigen Stille nichts anhaben. Sie entstehen aus der Sille heraus, lärmen und rattern in der Stille und enden in der Stille. Wenn ihr diese Erfahrung macht, wenn ihr euch nicht mehr über die Geräusche des Lebens aufregt, dann wisst ihr, dass das Leben selbst Stille ist. Die Stille in der alles seinen Platz und seine Dauer hat, in der alles entsteht und wieder verklingt, was uns unsere Sinne zutragen. 

In diesem Sinne lasst uns gemeinsam praktizieren. Beim Sitzen, Stehen, Gehen, Essen und Spazieren. 

Stille Wasser

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