Erfahrung
Erfahrung – Die Idee zu diesem Artikel kam nach dem Lesen eines E-Mails von einer Bekannten. Sie hatte einiges studiert, was J. Krishnamurti zum Thema Erfahrung gesagt hatte. Vor allem der folgende Satz gab ihr zu denken:
„Weshalb sollte ein Geist, der wach ist, intelligent und frei, jemals eine Erfahrung brauchen oder haben wollen?“
Sie begann, ihre eigenen Gedanken zu dieser Sache zu betrachten und schrieb:
Vorerst wollte ich einmal über “Erfahrung” nachdenken und besser verstehen, was hier gemeint ist.
Ich selber möchte im Leben ja bestimmte Erfahrungen machen. Ohne Erfahrungen würde ich mich bedeutungslos fühlen.
Lebenserfahrung macht aus mir Jemanden; dadurch gelte ich etwas und so fühle ich mich sicher.
Auf diese Weise setze ich mir “Erfahrungen, die ich in meinem Leben haben sollte”, zum Ziel und bin eigentlich nie ganz da, wo ich nun mal bin; ein gespaltenes Wesen, das Angst hat, bestimmte Erfahrungen nicht zu haben.
Es besteht ein ewiger Nachholbedarf bzw. eine Fluchtbewegung.
Laufe ich vor mir selbst oder was auch immer es ist, davon?
Was glaube ich, erreichen zu müssen?
Soll ich stehen bleiben und, wie oft betont wird, “keine Entscheidung” treffen? – Und dann?
Entscheidet sich etwas von selbst ohne mein Zutun oder was spielt sich ab?
Erfahrungsgemäss kann ich gar nicht anders, als in dieser Zerrissenheit und dem Gefühl des Ungenügens zu existieren.
Was ist das Leben anderes als ein unaufhörlicher, mühsamer Entscheidungswettlauf?!
Warum erzeuge ich diese Trennung oder Vorstellung von “was ich jetzt nicht bin, das werde ich vielleicht morgen sein”?
Lasst uns nun diese Überlegungen Schritt für Schritt betrachten; sicherlich können wir alle uns selbst darin wiederfinden.
„Vorerst wollte ich einmal über ‚Erfahrung‘ sprechen und besser verstehen, was hier gemeint ist.“
Erfahrung kann definiert werden als „direkte Beobachtung von Ereignissen oder Teilhabe an solchen als eine Basis von Wissen“ oder als „praktisches Wissen, Fertigkeit oder Anwendung, die von der direkten Beobachtung von oder der Teilhabe an Ereignissen oder einer bestimmten Aktivität abgeleitet wird.“
Eine „Erfahrung“ besteht demnach immer erst nach dem aktuellen Ereignis. Man hat sie nicht, solange man nicht durch sie gegangen ist. Nachdem man durch sie hindurch gegangen ist, wird sie im Gedächtnis gespeichert. Sie ist etwas in der Vergangenheit – der eigenen Vergangenheit. Wenn J. Krishnamurti also fragt: „Weshalb sollte ein Geist, der wach ist, intelligent und frei, jemals eine Erfahrung brauchen oder haben wollen?“, fragt er gewissermassen: Weshalb sollte ein Geist, der wach ist, intelligent und frei, von der Vergangenheit abhängig sein, um mit dem Leben in der Gegenwart zurecht zu kommen?
Krishnamurti spricht in dieser Aussage nicht vom praktischen Wissen, das man sich angeeignet hat. Er spricht nicht von der Erfahrung, die man braucht, um gewisse Aufgaben zu lösen. Das Wissen, dass 1+1=2 ist, bedeutet nichts, solange man keinen praktischen Nutzen daraus ableitet. Dieser praktische Nutzen wird definiert als Erfahrung. Wovon spricht Krishnamurti also, wenn er sagt „Weshalb sollte ein Geist, der wach ist, intelligent und frei, jemals eine Erfahrung brauchen oder haben wollen?“ Die folgenden Worte meiner Bekannten sollten zur Klärung beitragen:
„Ich selber möchte im Leben ja bestimmte Erfahrungen machen. Ohne Erfahrungen würde ich mich bedeutungslos fühlen. Lebenserfahrung macht aus mir Jemanden; dadurch gelte ich etwas und so fühle ich mich sicher.“
Wie stellt man es an, „bestimmte Erfahrungen“ zu machen? Heisst das nicht, dass man die „bestimmten Erfahrungen“ im eigenen Kopf konstruiert auf Grund der eigenen Vorstellung von dem, was man sein möchte? Ich sehe mich selbst als „dieses“, will mich aber als „jenes“ sehen. Also beschliesse ich, dies und das und etwas anderes zu tun, um „jenes“ zu werden, was ich sein möchte. Dieses Gedankenspiel – und das ist alles, was es ist – ist voller Fallgruben.
Die Sicht, mit der wir uns selbst sehen, ist eine Mischung aus allen empfundenen Freuden und Leiden, Schmerzen und Vergnügungen, Beleidigungen und Komplimenten, Erfolgen und Misserfolgen, Anerkennungen und Ablehnungen, die wir im Gedächtnis aufbewahren unter dem Namen „persönliche Erfahrungen“. Wir ordnen diese Erinnerungen ständig neu und schaffen damit unser seelischen „Höhen“ und „Tiefen“ als Antwort auf bedeutende Ereignisse wie den Zustand des Wetters oder die Tatsache, dass mich meine Katze heute ignoriert hat.
Es ist diese Ansammlung von Schrott, die ich nun in meinem Streben nach „bestimmten Erfahrungen“ manipulieren will. Lieber will ich mein Glaubenssystem umorganisieren, anstatt das ganze unsinnige Ding wegzuwerfen. Dieser Geist mit seiner auserlesenen Sammlung von „Wehe-mir“ ist der Schöpfer von „bestimmten Erfahrungen“, die das „Wehe- mir“-Syndrom aus dem Weg schaffen sollen. Er ist nicht nur der Schöpfer; er macht sich selbst auch zum Richter und zur Jury, die das Resultat beurteilt – ein geschlossenes, inzestuöses System.
Dieses Vorgehen, sich selbst neu zu erschaffen, mag für kurze Zeit erfolgreich sein. Es gelingt, solange der Prozess, der die „bestimmte Erfahrung“ ermöglicht, dauert und eine kurze Zeit danach. Die Fantasiereise endet dann, wenn man sich wieder „auf Feld eins“ befindet und der ganze Prozess von vorne anfängt, wenngleich in einer anderen Farbe. Man tröstet sich über den Misserfolg hinweg, bei der vorangehenden Gelegenheit Freiheit vom Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Unsicherheit gefunden zu haben, hinweg, indem man der eigenen Vorgehensweise die Schuld gibt oder, wenn es passt, einer Störung von aussen.
Früher oder später kommt der aufwachende Geist zur Feststellung, die im E-Mail meiner Bekannten zum Ausdruck kommt:
„Auf diese Weise setze ich mir ‚Erfahrungen, die ich in meinem Leben haben sollte‘, zum Ziel und bin eigentlich nie ganz da, wo ich nun mal bin; ein gespaltenes Wesen, das Angst hat, bestimmte Erfahrungen nicht zu haben. Es besteht ein ewiger Nachholbedarf bzw. eine Fluchtbewegung.
Laufe ich vor mir selbst oder was auch immer es ist, davon? Was glaube ich, erreichen zu müssen?“
Viele Menschen vermeiden es, an den Punkt zu kommen, wo man beginnt sich zu beobachten und solche Fragen zu stellen, wie sie im Mail ausgedrückt wurden, sie bevorzugen die „Ignoranz-ist-Glückseligkeit-Haltung“. Kurz gesagt: Wir verbringen unser Leben im Versuch, Schmerz, insbesondere selbst-zugefügten Schmerz zu vermeiden, sei er physischer oder psychischer Art, es sei denn, er unterstützt unsere Zielsetzung. Fragen und Beobachtungen wie die oben besprochenen können seelisch weh tun.
Aber wenn sie nicht anerkannt werden, verstärken sie bloss den gegenwärtigen Zustand der Ignoranz. In diesem Zustand der Ignoranz, dem Zustand der Unkenntnis seiner selbst, befinden wir uns alle, ganz egal, was wir uns anderes einreden mögen. Sich selbst vollkommen ehrlich anzuschauen, das heisst, sämtliche Ausreden wegzuwerfen, restlos alle Rationalisierungen und anderen Abwehrstrategien – die meisten von uns wissen, welche uns am besten dienen – das ist das einzig Notwendige zur Überwindung dieser Ignoranz. Was hindert uns daran? Droht uns die Auslöschung unserer selbst? Wer bin ich, wenn meine Fassade aufgebrochen ist? Werde ich mich dann in meinem psychologischen Spiegel noch erkennen? Was auch immer die Ausflüchte sind, sie sind unhaltbar.
Sich selber anschauen und mit der Trivialität seiner selbst ins Reine zu kommen ist kein Entwicklungsprozess. Es ist kein Aufstieg von einer Stufe des Bewusstseins auf eine höhere Stufe des Bewusstsein, wie die landläufige Weisheit es gerne vorgibt. Entweder tue ich es, oder ich tue es nicht! Der erste Schritt ist der letzte Schritt. Die Antworten liegen in den Fragen. Die Feststellung
„Auf diese Weise setze ich mir ‚Erfahrungen, die ich in meinem Leben haben sollte‘ zum Ziel und bin eigentlich nie ganz da, wo ich nun mal bin.“
führt zur Frage: „Was werde ich dagegen tun?“ Mache ich ein Projekt daraus? Philosophiere ich um die Sache herum? Lege ich es in die Mappe der später-zu-erledigenden-Arbeiten? Suche ich mir einen Therapeuten, einen Guru, der mir die Antwort gibt? Warum nicht einfach das ganze Affentheater aufgeben und da sein, wo ich gerade bin? Was bedeutet das? Es bedeutet gewahr sein, ohne das momentane Geschehen zu kommentieren. Es bedeutet ein passives Wahrnehmen der gegebenen Wirklichkeit – das, was ist.
Es ist die Wahrnehmung der Bewegung des Lebens, ohne über diese Wahrnehmung zu reflektieren; vollkommenes Eintauchen ins Geschehen, statt als distanzierter Beobachter daneben zu stehen. Es bedeutet in der Zeit ausserhalb der Zeit sein. Ausserhalb-der-Zeit-sein heisst ausserhalb des ständigen inneren Geschwafels zu sein, welches nichts anderes ist als ein Wiederkäuen der eigenen Vergangenheit. Ausserhalb-der-Zeit-sein bedeutet die geistige Übereinstimmung mit dem gegebenen Moment. Wobei der Moment ausserhalb-der-Zeit-ist, weil er keine Vergangenheit hat. Oder wie jemand sagte: „Wenn ich schlafe, schlafe ich. Wenn ich esse, esse ich.“
„Ein gespaltenes Wesen, das Angst hat, bestimmte Erfahrungen nicht zu haben.“
Was kommt zuerst, ein ‚gespaltenes Wesen‘ oder ‚Angst‘ ?
Wer entscheidet, dass das Wesen gespalten ist?
Wer entscheidet, dass meine Angst zu leben durch ‚bestimmte Erfahrungen‘ verschwindet?
„Ich habe es entschieden“.
„Wer?“
„Ich“.
„Du meinst, dein ‚gespaltenes Wesen‘ hat es entschieden?
„Nein….ich meine… ja.“
„Hm, bitte fahre fort.“
„Es besteht ein ewiger Nachholbedarf bzw. eine Fluchtbewegung. Laufe ich vor mir selbst oder was auch immer es ist, davon?
Ja!
„Was glaube ich, erreichen zu müssen?“
Vielleicht meine Freunde und mich selbst zu beeindrucken? Meine Feinde oder mich selbst zu irritieren? Das Leben zu vermeiden? Meine Fantasien zu verwirklichen? Mein Ego am Leben zu halten?
„Soll ich stehen bleiben und wie oft betont wird, ‚keine Entscheidung‘ treffen? Und dann?
Nichts steht still. Nur wir selbst stehen still wenn wir gefangen sind in unseren ewigen Bewertungen, in unseren starrsinnigen Meinungen, in unserem Vertrauen in vergangene Erfahrungen. Das eigene Konzept von stehen-bleiben gründet auf dem eigenen Konzept von nicht-stehen-bleiben. „Keine Entscheidung treffen“ ist eine Entscheidung. Dabei gleichen wir einem Reh, das im Scheinwerferlicht eines herannahenden Autos gefangen ist – geblendet. Und sehr oft erleiden wir dasselbe Schicksal wie das Reh. Wir werden von dem, was ist, überrumpelt, weil wir zu beschäftigt sind mit dem, was unserer Ansicht nach sein sollte. Wir stecken in-der-Zeit, bewegungslos, verletzlich, hilflos.
Wir bewundern Menschen, die anscheinend in jede Lebenssituation hineinpassen. Ihre Worte, ihre Körpersprache, ihre Geistesgegenwart erlaubt ihnen, sich mit Leichtigkeit in jeder Lage zu bewegen. Denkt man, das sei eingeübt und sie hätten alles im Voraus geplant? Denkt man, dass sie sich auf ihre Vergangenheit verlassen, um sich in der Gegenwart zu bewegen? Oder dass sich ihnen die Frage „Und dann?“ überhaupt je stellt? Sich im Leben leicht zu bewegen bedeutet, mit wenig Gepäck unterwegs zu sein. Ohne mentale Last. Es bedeutet, die eigenen, heissgeliebten Meinungen aus dem Spiel zu lassen. Und dann? Und dann nichts.
„Entscheidet sich etwas von selbst ohne mein Zutun, oder was spielt sich ab?“
Es mag einige überraschen, dass wir nicht die „Meister des Universums“ sind. Es mag einige überraschen, dass unsere Lebensangst sich oft als Arroganz manifestiert. Es mag einige überraschen, dass sich die Welt keinen Deut um unsere Meinungen kümmert. Warum fürchten wir uns davor, die Dinge einfach zu lassen, wie sie sind?
Warum versuchen wir ständig, etwas zu flicken, das nicht kaputt ist? Warum muss es so gehen, wie ich es will? Warum ist es einfacher, die Schuld im Verhalten eines anderen zu suchen als im eigenen? Warum ist „mein Zutun“ wichtiger als das „mein Zutun“ eines anderen? Warum bin ich dauernd in Abwehrstellung? Was befürchte ich? Was? Beantwortet man diese Fragen, ist die Frage „Was spielt sich ab?“ keine Frage mehr.
Sie existiert nicht mehr, wenn man mit dem Leben fliesst. Man tut einfach das, was erforderlich ist, um Körper und Geist gesund und dynamisch zu erhalten – es sind diese auf Fakten beruhenden Entscheidungen, die erforderlich sind. Denken ist erforderlich, ebenso wie Erfahrung. Abgesehen davon ist das Leben einfach ein Glücksspiel. Wenn man den eigenen Geist und Körper nur dazu benutzt, um die Wunschfantasien zu verwirklichen, ist man zu einem Leben voller Elend verurteilt. Dies zu sehen, bedarf es keiner grossen Wissenschaft, man muss sich bloss umschauen. Schaut eure eigene diesbezügliche Geschichte an!
„Erfahrungsgemäss kann ich gar nicht anders, als in dieser Zerrissenheit und Ungenügsamkeit zu existieren.“
Wenn alles, was man aus den eigenen Erfahrungen vorweisen kann „Zerrissenheit und Ungenügsamkeit“ ist, warum legt man dann so viel Wert darauf, sie zu behalten? Es muss einen Grund geben. Wenn es keinen gäbe, würde man sie nicht festhalten. Vielleicht ist es Zeit, die eigenen Erfahrungen wegzuwerfen und vorwärts zu gehen. Vielleicht ist es Zeit, das Jammern aufzugeben und dem Leben ins Auge zu schauen. Vielleicht ist es Zeit, aus dem Loch von „meiner Erfahrung“ herauszuklettern. Vielleicht ist es Zeit, zu erkennen, dass „meine Erfahrung“ nicht das Leben ist. Vielleicht ist es Zeit zu realisieren, dass „meine Erfahrung“ ein Schwindel ist.
„Was ist das Leben anderes als ein unaufhörlicher, mühsamer Entscheidungswettlauf?“
Nein, das ist nicht das Leben. Das ist die Hölle. Selbst erzeugt, selbst ernährt und selbst aufrechterhalten, selbst… selbst… selbst… Wir bringen uns selbst in diese Hölle. Man kann niemand anders dafür verantwortlich machen, man mag es drehen und wenden, wie man will. Das heisst aber nicht, dass man an diesem Zustand nicht durchaus auch Gefallen findet. Man schwelgt darin. Man pflegt ihn. Man schafft ihn immer wieder neu aus dem Gedächtnis. Ich halte ihn für „mein Schicksal“ in diesem Leben. Zum Glück gibt es Reinkarnation. Wirklich?
„Warum erzeuge ich diese Trennung oder Vorstellung von ‚Was ich jetzt nicht bin, das werde ich vielleicht morgen sein‘?“
Warum? Weil wir nicht wissen, wer wir von allem Anfang an sind. Wir rennen von einer Fiktion zur anderen. Wir schwelgen im Luxus der Selbst-Erfindung. Wir sind auf Einkaufstour, immer auf der Suche nach dem besten Handel und dem tiefsten psychologischen Preis. Wir gehen und kaufen einen Hut. Heute passt er auf den Kopf. Morgen kaufen wir einen neuen Hut für den morgigen Kopf. Und so weiter und so fort. Der Schrank ist voller alter Hüte und der Kopf ist voller neuer Hüte. – Und dann stirbt man. Wach auf!
„Weshalb sollte ein Geist, der wach ist, intelligent und frei, jemals eine Erfahrung brauchen oder haben wollen?“
Tatsächlich, weshalb?
Looking out at the road rushing under my wheels
Looking back at the years gone by like so many summer fields
In sixty-five I was seventeen and running up one-o-one
I don’t know where I’m running now, I’m just running on Running on – running on empty
Running on – running blind
Running on – running into the sunBut I’m running behind
Jackson Browne, ‘Running on Empty’
Katzen
„Die Katze tut nichts, sie ist einfach, wie eine Königin. Sie sitzt, duckt sich, legt sich hin. Sie kennt sich aus, erwartet nichts, ist von niemandem abhängig, genügt sich selbst. Ihre Zeit ist perfekt, sie dehnt sich aus und zieht sich zusammen, wie ihre Pupillen, konzentrisch und zentripetal. Keine unerbittlichen Ängste erschöpfen sie. Ihre horizontale Lage hat eine metaphysische Würde, die dem Menschen gemeinhin abhanden gekommen ist, meistens jedenfalls. Der Mensch legt sich hin zum Ruhen, zum Schlafen, zum Bumsen, immer um etwas zu tun, und danach steht er sofort wieder auf; die Katze ist dort, um bloss dort zu sein, so wie man sich am Strand hinlegt in lockerer Unbekümmertheit. Eine Göttin der Zeit, unparteiisch, unerreichbar.
Übersetzt aus: Claudio Magris, Microcosms
Der nackte Geist
Auszug aus dem Buch von Rinzai mit Kommentar von Sokei-an
„Unser geistiges Wesen hat keine Form, breitet sich aber in alle Richtungen aus. In den Augen nennt man es Sehen, in den Ohren nennt man es Hören; in der Nase riecht es, im Mund spricht es, in der Hand greift es, in den Füssen geht es. Es ist ursprüngliches, reines Licht, das sich in die sechs harmonischen Sinnesfunktionen aufteilt. Wenn ihr nicht an den Gedanken in eurem Geist festhaltet, seid ihr, wo ihr steht und geht, vollkommen frei.
Wozu sage ich euch all dies? Nur weil ihr nicht aufhören könnt, gedanklich umherzuwandern und nach irgendetwas zu suchen und deshalb in den nutzlosen Wegen der Alten gefangen seid.“
Sokei-ans Kommentar
Wir bekleiden unseren ursprünglich nackten Geist wie einen Körper mit vielen verschiedenen Gewändern – Erziehung, Errungenschaften, Leistungen, Meinungen, Annahmen. Es gibt viele Kollektionen von Kleidern. Wir erkennen die äussere Form unseres nackten Körpers selbst wenn dieser bekleidet ist, die Gestalt des unbekleideten Geistes hingegen kennen wir nicht. Wir erkennen die hässlichen Proportionen eines nackten Körpers, nicht aber die unharmonischen Proportionen eines verzerrten menschlichen Geistes.
Die wahrhaftige Wirklichkeit zwingt uns, all die schäbigen Kleider unseres Geistes abzulegen. Dann offenbart sich sein ursprünglicher Körper, den wir von der geistigen Mutter, der Buddha-Natur, erhalten haben und nicht von Maya, der Schöpferin aller Täuschungen.
Wenn die alten Gewänder weggeworfen worden sind, wählt man die notwendigen Kleider für den Körper selbst aus. Im Sommer zieht man etwas Leichtes an und im Winter trägt man Wolle. Wenn man erkennt, dass unser Geist wie Noodle, meine Katze, von der Natur einen saumlosen Pelzmantel geschenkt bekommen hat, braucht man keine anderen geistigen Kleider mehr. Das heisst, wenn man erkennt, wer man ist und wo man im Universum steht und welche Gestalt der Geist hat, dann weiss man, was zu tun ist, und ist in diesem Augenblick befreit. Vielleicht hat man jedoch vergessen, wie man sich entkleidet und befreit und läuft mitten im Sommer in den Winterkleidern umher.
Wenn man nicht weiss, wie man sich befreit, denkt man vielleicht, man müsse die Gedanken und Impulse im eigenen Geist unterdrücken. Aber dieses Vorgehen ist zu langsam! Jedermann hat die freie Natur (Buddhanatur) in sich, es ist nicht nötig, ihre Kreaturen abzutöten. Es ist auch nicht nötig, in einen tiefen Schlaf zu verfallen und sich vom physischen Körper zu trennen; man kann sich ohnehin nicht vom universalen Körper trennen. Wenn die Zeit reif ist, wird der Geist seine Blütenblätter öffnen und die echte, klare Sicht freilegen. Damit dies geschehen kann, muss man sich allerdings von der Welt der Wünsche und von allen Ideen über Form und Nicht-Form radikal trennen.
Warum empfinden wir dies als ein derart tiefes Mysterium? Weil es mit dem gewöhnlichen Verstand nicht zu erfassen ist, und weil uns niemand dabei helfen kann. Man muss dies ganz alleine tun, kein Lehrer kann einen hineinnehmen. Man kann nur durch das eigene Bemühen erkennen, dass die geformte Welt unserer täglichen Erfahrung und die formlose Wirklichkeit ein und dasselbe sind. Das ist das Mysterium.
„Geht einfach euren täglichen Verrichtungen nach in Übereinstimmung mit den Umständen und das Karma der Vergangenheit wird abbezahlt. Tragt die Kleider, die ihr tragen wollt. Geht und sitzt nach eigenem Willen. Denkt keinen Augenblick daran, die Errungenschaften Buddhas zu erlangen. Warum nicht? Ein Mann der alten Zeit sagte:
‚Wenn du dieses oder jenes tust, um den Buddha zu finden, wird der Buddha zu einer Ursache von Geburt und Tod‘.“
Am Mittag mittagessen, am Abend abendessen, ein Glas Wein trinken und wenn einem kalt ist ein heisses Bad nehmen. Damit soll Karma abbezahlt werden? Ja! Das Karma sind die Urteile und Meinungen, die aus der Vergangenheit resultieren. Wir Menschen leben fast vollständig in unserem Instinkt, d.h. wir handeln auf Grund des Karmas der Vergangenheit – mit Leidenschaften, Zorn, Unwissenheit. Mit echter, innewohnender Weisheit wandeln sich diese Eigenschaften in Tugenden. Eigenwille wird zu Willenskraft; Zorn zu Meditation, Unwissenheit zu Weisheit. Nachdem man alles über sich selbst gelernt und erfahren hat, muss man zum echten Boden des Geistes zurückkehren. Dann wird das, was einst Unwissenheit war, zu wahrem Nicht-Wissen. Vollständiges Nicht-Wissen ist Nirvāna. Nirvāna ist Unbekümmertheit im wahren Sinn des Wortes.
„Tragt die Kleider, die ihr tragen wollt. Geht und sitzt nach eigenem Willen“. Wenn wir die Weisheitsnatur unseres eigenen Wesens tiefgründig verstehen und ihr folgen, sind wir frei, die Kleider zu tragen, die wir wollen, und das zu tun, was wir wollen. Wir alle sind bereits im Besitz dieser allumfassenden Weisheit, aber da wir ihrer kaum bewusst sind, benutzen wir sie blindlings und machen viele Fehler dabei – das ist unsere Lebensart. Je nachdem, wie wir handeln, erleben wir Unglück oder Glück.
Wir sollten unsere Weisheit verlässlich und leuchtend machen. Dadurch können wir sie in allen Richtungen nutzen und auf jedem Gebiet, auf dem wir es wünschen, ein Experte sein. Was ohne sie blinder Instinkt ist, wird zur erleuchteten Intuition. Wenn dies geschieht, braucht es keinen Buddhismus und auch keine andere Religion mehr.
Die alten Meister hatten ihre eigenen Methoden, anderen Menschen zur Befreiung zu verhelfen. Frühere Zen-Meister verstanden es, gute Zen-Schüler hervorzubringen, in dem sie ihre Stimme und Hände oder Stöcke einsetzten. Unter den Schlägen und Schreien eines Zen-Meisters öffneten die Leute plötzlich ihr Auge für die Wirklichkeit. Doch ihr heutigen Menschen dürft nicht an diesen alten Methoden kleben. Lasst euch nicht von solchem Zeug verwirren!
„Liebe Brüder, macht euch nichts vor. Habt ihr nicht alle einen Vater und eine Mutter? Was braucht ihr mehr? Wendet euren Blick tief nach innen in euer eigenes Bewusstsein. Einer der Alten sagte: ‚Yajnadatta dachte, er habe seinen Kopf verloren und konnte ihn nirgends finden. Als er sein suchendes Verlangen aufgab, stellte er fest, dass es nichts weiter zu tun gab für ihn.‘ Liebe Brüder, seid euch selbst! Seid nicht prätentiös!“
Lin-chi betonte, dass wir alles haben, was es braucht, um die Essenz des Buddhismus, Weisheit und Liebe, zu verwirklichen. Die Quelle von Weisheit und Liebe ist das Bewusstsein. Haben wir nicht alle einen Vater und eine Mutter, von denen wir Bewusstsein geerbt haben? Natürlich ist man dieses Bewusstsein nicht selbst; man muss alle Vorstellungen von einer Ich-Existenz fallenlassen. Alle Menschen sind dank ihrem angeborenen Bewusstsein von Natur aus zu Weisheit und Liebe fähig.
„Yajnadatta dachte, er habe seinen Kopf verloren und konnte ihn nirgends finden.“ Yajnadatta ist eine legendärer Bewohner der indischen Stadt Shravasti. Er war so von sich eingenommen, dass er jeden Morgen in seinen Spiegel schaute und entzückt war von seinem schönen Antlitz. Doch eines Morgens konnte er sein Bild nicht finden, der Spiegel reflektierte nichts. Yajnadatta rannte entsetzt aus dem Zimmer und schrie „Ich habe meinen Kopf verloren, ich habe meinen Kopf verloren; helft mir, meinen Kopf wiederzufinden.“ Er hatte nicht bemerkt, dass er nur aus die Rückseite des Spiegels geschaut hatte.
Dies ist ein Gleichnis für das Bewusstsein, das nach dem Bewusstsein sucht, etwa so wie wenn man in einer Enzyklopädie nach sich selbst sucht oder im Himmel nach Nirvāna.
Wahrheit kann nicht demonstriert, nicht bewiesen werden durch etwas anderes. Die logische Funktion des Gehirns kann Wahrheit definieren, aber nicht demonstrieren. Wenn man also versucht, sein eigenes Bewusstsein mit Hilfe des denkenden Geistes zu suchen, verhält man sich wie Yajnadatta. Ihr lacht, aber viele Menschen tun dies auch heute.
Als Yajnadatta realisierte, dass sein Kopf das war, wo er schon immer war, fand er Ruhe.
Dhyana Sommer 2011