Den Geist Entleeren

Einleitung

Inhalt

Den Geist Entleeren und tauchen tief in diese Nummer von Dhyāna ein. Sie ist geprägt von einem Anliegen, dem wir uns am Zentrum für Zen-Buddhismus dauerhaft verpflichtet fühlen, nämlich der Bewahrung und Weitergabe des grossen Reichtums an wertvollen Texten zum Thema des geistigen Erwachens. Sie zeugen alle von der fundamentalen, zeitlosen Quelle der Erkenntniskraft, die in uns Menschen schlummert und die es uns ermöglicht, Licht in das von persönlichen und kollektiven seelischen Zwängen überschattete weltliche Leben zu bringen. Die präsentierten Beiträge umfassen den Zeitraum von mehr als zweitausend Jahren.

Das Teisho Entleere deinen Geist … von H. Platov zum Beispiel widerspiegelt das Denken eines Menschen des 20. Jahrhunderts; Der rote Faden des Dharma ist ein Abstecher in die frühbuddhistische Zeit; Zum Schluss …führt uns direkt in die eigene Stube.

Den Geist Entleeren und tauche tief ins Tao ein

Teisho von Henry Platov vom 12. Juli 1986 in Zürich.

Im alten und sehr bekannten Zen-Kloster Nanzenji in Kyoto, Japan, gibt es eine berühmte Schiebewand, ein Soji, mit einer Kalligraphie mit den Worten: «Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein». Das Wort «Tao» hat verschiedene Bedeutungen, es kommt darauf an, in welcher Verbindung man es benutzt. Im hier gegebenen Zusammenhang von «eintauchen» bedeutet Tao ein Urzustand oder das Urbewusstsein.

Es geht um eine Form der Meditation, die ohne Vorstellungen ist, eine inhaltslose, vorstellungslose Meditation. Im Unterschied zu Meditationsformen, in denen man Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Bilder und alles Mögliche, was sich im Bewusstsein abspielt, zum Inhalt hat.

Zen-Meditation

Der Buddhismus kennt viele Schulen. Die sogenannte Meditationsschule, die Dhyāna-Schule, kam nach China und wurde dort Chan genannt. Von dort gelangte sie nach Japan und bekam den Namen Zen. Man könnte sagen: Der indische Baum der Dhyāna-Schule des Buddhismus wurde nach China gebracht und in den Boden des Taoismus gepflanzt. Deshalb gibt es im frühen Zen sehr viel taoistisches Gedankengut. Die Anweisung: Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein ist ein Beispiel dafür.

Als ein Sinnbild können wir uns einen Bergteich vorstellen. Dieser Bergteich ist tief und dunkel. Schaut man bei Licht in den Wasserspiegel des tiefen dunklen Teiches, sieht man sich selbst. Man sieht sein eigenes Gesicht. Man sieht auch alles andere, das sich spiegelt: die Sonne oder der Mond, Bäume, Wolken, was sich halt so alles spiegelt. Taucht man aber in das Wasser hinein, dann sieht man keine Spiegelbilder, auch keinen Spiegel. Das ist ein Sinnbild für den Bewusstseinszustand von Samādhi. Das Sanskritwort Samādhi kommt aus der indischen Tradition des Raja-Yoga und bedeutet dasselbe wie das tiefe Eintauchen in das Urbewusstsein.

Raja-Yoga

In den Yoga Aphorismen von Patanjali, der das Raja-Yoga genau studiert und erläutert hat, findet man dasselbe. Dort liest man: «Verhindere die Modifikationen des Bewusstseins». Das heisst, man soll es nicht zulassen, dass sich das Bewusstsein in diesen und jenen Gedanken, diese und jene Empfindung, dieses und jenes Gefühl modifiziert. Man soll sich nicht identifizieren mit all den Inhalten des Bewusstseins. Gewöhnlich ist man ja damit identifiziert: meine Gedanken, meine Gefühle usw. Diese Inhalte muss man quasi «ausschalten».

Um in den reinen, kristallklaren Bewusstseinszustand zu kommen, muss man also den Geist entleeren und die Modifikationen des Bewusstseins verhindern. Dies ist das Wesen der Sitzmeditation, Zazen. Man setzt den Körper hin und hört auf, mit allen möglichen Gedanken beschäftig zu sein. Man entleert sich von sämtlichen Inhalten, man entkleidet den Geist sozusagen vollständig. Man unterbindet die Identifikation mit den Inhalten. So soll man sitzen! – So! Einfach so! (HP nimmt Meditationshaltung ein.)

Wie macht man das?

Nun stellt sich die Frage: Wie macht man das? Wie kann man in diesen Zustand kommen? Zuerst ist es eine Sache der Konzentrationsfähigkeit. Man soll sich auf nur ein Geschehen konzentrieren. Die natürlichste Form der Sammlung auf Eines ist es, mit Aufmerksamkeit im Gewahrsein des Atems zu ruhen. Das Atmen geht ganz natürlich vor sich, ob man im Schlafzustand ist oder im Wachzustand, ob man geht oder steht, sitzt oder liegt; andauernd ist der Atem da.

Man kümmert sich nicht um das, was man eventuell hört, sieht, denkt und fühlt, sondern man richtet die Aufmerksamkeit nur auf den Atem. Einfach so! Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Das ist eine sehr natürliche Konzentration. Die Verbindung mit dem Rhythmus des Atems ermöglicht das Verblassen und schliesslich das Verschwinden der Gedanken.

Aber am Anfang geschieht es leicht, dass Gedanken kommen und einen forttragen. Auf einmal ist man wieder mitten im Denkprozess oder es tauchen irgendwelche Bilder auf. Dann muss man die Aufmerksamkeit oder das Gewahrsein auf den Atem zurückbringen. Nur Atem! Das kann einem ziemlich langweilig erscheinen. Kommt man aber in diese Sammlung hinein, wird man sozusagen eins mit dem Atem, dann stellt sich ein rhythmischer Ruhezustand ein.

Verbleibt man darin – man kann die Fähigkeit, darin zu verbleiben, entwickeln – dann braucht man sich nicht mehr bewusst auf den Atem zu konzentrieren. Man weilt einfach in einem rhythmischen, harmonischen Ruhezustand. Verbleibt man darin, vertieft sich das Bewusstsein. Es ist – um das Symbol der Bergteichs zu benutzen – als ob man sich von der Oberfläche des Wasserspiegels löst und unterhalb des Wasserspiegels tiefer und tiefer ins Wasser taucht.

Das ist also gemeint mit: Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein. So soll Meditation sein, vorstellungslos und inhaltslos. So, dass sich ein harmonischer Ruhezustand einstellt. So soll es sein!

Was leider nicht so ist …

Was leider nicht so ist. Weil man mit einem Eigenwillen an die Sache geht: «Ich muss jetzt meditieren; ich darf jetzt nicht denken; ich soll nichts sehen, nichts hören …». Man schottet sich ab und ist weit entfernt vom rhythmischen, harmonischen Zustand, in dem man eins ist mit dem natürlichen Atem. Man zwingt sich sozusagen in dieses Nicht-Denken, Nicht-Hören, Nicht-Sehen. So: (HP macht ein verkrampftes Gesicht und gibt einen gequälten Laut von sich).

Wenn man dies tut, ist es nichts weiter als ein Unterdrücken von allem, was sich im Bewusstsein abspielt. Man unterdrückt das Gedankenleben, das man hat, das Gefühlsleben, das man hat, die Triebkräfte, die man hat. Man unterdrückt sie alle. Das ist natürlich nicht Meditation. Das ist vollkommen falsch. Aber gewöhnlich ist es so.

Selbst beobachten

Ich muss wiederholen: Das Unterdrücken von allem, was sich im Bewusstsein abspielt – das Innenleben, die Gedanken, die Gefühle, die Verbindung mit der Aussenwelt, die Interessen, die Arbeit oder was es auch sein mag – das ist falsche Meditation; es ist gar keine Meditation.

Es ist, wie wenn man einen Deckel auf einen Mülleimer legt, sich auf diesen Deckel setzt und sagt: «Jetzt meditiere ich.» Man sitzt aber auf einem Mülleimer. Und auch die Fliegen kommen, die riechen das nämlich, und summen einem um die Ohren. Das kennt man ja! Und wenn man fertig ist und aufsteht, springt der Deckel auf und das ganze Gemüse im Mülleimer quillt heraus.

Man kann dies gut selbst beobachten: Man hat vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei, auf diese Weise gesessen und dann, sobald man aufhört damit, kommt all das, was man unterdrückt hat, wieder an die Oberfläche; alles ist sogleich wieder da: die alten Gedanken, die Gefühle, dieses und jenes und man ist wieder mitten drin. So kann man sich selber den Beweis liefern: Habe ich wirkliche Sitzmeditation gemacht? Bin ich wirklich in Meditation gesessen oder habe ich einfach nur alles, was sich da abspielte, unterdrückt? Die Antwort zeigt sich in dem Moment, wo man aufsteht. Man schwatzt mit anderen, diskutiert, albert herum und alles geht wieder los. Dies ist eine sehr arme Meditation. Das ist gar keine Meditation!

Echte Meditation

Im Leben hat man diese und jene Schwierigkeiten mit sich selbst – wie man so sagt – und auch mit anderen. Dann denkt man: «Wenn ich meditiere, werde ich diese Schwierigkeiten los.» Ja, aber nur wenn man wirklich meditiert. Sonst wird man sie nicht los. Wenn man die Probleme bloss unterdrückt, sind sie vielleicht für eine gewisse Zeitdauer «weg», aber nicht lange und alle sind wieder da.

Bei echter, richtiger Meditation ist das anders. In diesem Fall lösen sich viele Inhalte des Bewusstseins auf. Man könnte dies mit der Wirkung von destilliertem Wasser vergleichen. – Im Taoismus und in der Symbolik der westlichen Psychologie, verbindet man das Bewusstsein oft mit dem Element Wasser. – Das Wasser gilt dann als ein Symbol für das Bewusstsein. Destilliertes Wasser ist ein vollkommen reines Wasser; es enthält keine Inhalte und hat ausserordentlich grosse Auflösungskraft.

Das entleerte Bewusstsein ist ein reines Bewusstsein und hat Auflösungskraft.

Der richtige, echte Meditationszustand beweist sich also auch dadurch, dass sich die Bewusstseinsinhalte darin auflösen. Bei falscher Meditation, bei der man alle möglichen Vorstellungen und Ideen hat, geschieht dies das nicht. Das ist – wie schon gesagt – nichts als eine momentane Unterdrückung. Dann kommt alles wieder raus.

Deshalb merke man sich den Satz: Entleere deinen Geist und tauche tief ins Tao ein.

Andere Hinweise

Es gibt noch andere Hinweise, die sich auf richtige Meditation beziehen. Im Tao te King von Lao-tzu liesst man zum Beispiel: «Wer kann durch Stille das trübe Wasser klären …» Wie kann man das trübe Wasser des Bewusstseins durch die Stille klären?

Man kann dies mit dem Bild von einem Glas mit «schmutzigem» Wasser erläutern. Das Wasser ist trüb, weil alles Mögliche darin schwimmt. Lässt man das Glas in Ruhe stehen, sinken die «schmutzigen» Inhalte auf den Boden und das Wasser wird klar. Das trübe Wasser durch Stille klären, ist also kein Unterdrücken. Der Geist wird still und alle Gedanken und mentalen Inhalte lösen sich auf. Dann ist das Bewusstsein klar. Wer kann dies bewirken?

Lao-tzu fragt weiter: « … und wer kann durch Bewegung die Stille lebendig machen?» Wer kann die harmonische Ruhe lebendig werden lassen? Das wäre ein Hinweis auf echte Meditation. Stille und Bewegung gehören zusammen. Das taoistische Prinzip von Wu-Wei, Nicht-Tun und Tun ist überall wirksam, auch in der Meditation. Doch wer ist es, der «tut»?

Ein weiterer Hinweis ist der Satz: «Schliesse deine Sinnespforten und bewahre den Vitalgeist.» Erlaube nicht, dass deine Vitalität, die fundamentale Lebenskraft, im Hören, Sehen, Empfinden usw. verplempert wird oder sich verzettelt. Darum: Schliesse die Sinnespforten, bewahre den Vitalgeist! Dann wird die Vitalität zu reinem Bewusstsein.

Oder, wie schon gesagt, Patanjalis «Verhindere die Modifikation des Bewusstseins.» Verhindere, dass sich dein Bewusstsein in diese und jene Gedanken, dieses und jenes Gefühl, dieses und jenes Bild modifiziert. Verhindere das!

Wie man sieht, kommt es letzten Endes nicht darauf an, welcher Meditationsschule man folgt: Entweder man tritt in den Meditationszustand, ins Samādhi, ein oder nicht.

Samādhi wozu?

Man kann natürlich fragen: Wozu überhaupt meditieren, wozu Samādhi anstreben? Darauf könnte man antworten: «Damit man sein wirkliches, wahres Wesen, sein wahres Selbst entdeckt», – das wahre Selbst ist nicht das, was da so denkt und fühlt und tut – «damit man nicht andauernd gefangen ist in allen möglichen Vorstellungen, Gedanken, Empfindungen usw.»

Wenn man identifiziert ist mit den Vorgängen, kommt man nicht zur Erkenntnis des wirklichen Selbst. Man verliert das wahrhaftige Selbst in den Gedanken und Gefühlen und all dem, was sich abspielt in einem.

Wir sagen: «Meine Gedanken, meine Empfindungen, meine Gefühle…». Woher kommen diese Gedanken, Empfindungen, Gefühle? Das sollte man sich einmal überlegen. Was ist es denn überhaupt, dass sich dieser Gefühle, Empfindungen, Gedanken gewahr ist?

Studiert man die verschiedenen sogenannten Pfade oder Wege der Religionen, stellt man fest, dass alle die Frage nach dem wahrhaftigen, ursprünglichen Wesen stellen und auf ihre Art zu beantworten suchen. In der indischen Tradition heisst das wahre Wesen «Purusha» oder «Atman». In der Kabbala, dem Weisheitsbuch der jüdischen Überlieferung, heisst es «Ruach». Bei den Gnostikern der christlichen Tradition ist die Rede vom dem, was im «Ebenbild Gottes geschaffen» ist. Im Sufismus heisst das transzendente Wesen «Allah», im Buddhismus «Buddha-Natur» und im Taoismus «Urwesen» oder «Urnatur». Ganz egal, welches Namensschild man aufklebt, das Wesentiche ist es, das Selbst, das was über das persönliche Selbst hinausgeht, zu erkennen.

Sich nicht identifizieren

Noch einmal: Wie macht man das? Durch richtige, echte Meditation! Es ist gewissermassen ein Loslassen von sich selbst oder was man für sich selbst hält.

Man soll lernen, das, was sich in einem und um einen herum abspielt, zu beobachten ohne sich damit zu identifizieren. Man tritt sozusagen zurück, ist bloss Zeuge. Damit ist nicht gesagt, dass man aufhört zu denken oder zu empfinden. Natürlich nicht. Aber man wird nicht eingefangen. Man ist sozusagen von den Inhalten befreit.

Man kann diesen Vorgang z.B. im Kino studieren. Schaut man sich einen Film an, kann man feststellen, dass man auf einmal gar nicht mehr an sich selbst denkt und ganz «in» den Vorgängen des Films gefangen ist. Man identifiziert sich mit den Vorgängen im Film. Man vergisst sich selbst und verliert sich in der Dramatik des Films.

Bewusstes Einssein

Diese Selbstvergessenheit durch eine Identifikation mit den Vorgängen sieht fast so aus, wie ein Meditationszustand oder ein Samādhi, in dem man sozusagen eins ist mit einem Geschehen. Aber im Film geschieht dies unbewusst. Wenn man es bewusst ausführt, wenn man mit einem Geschehen eins wird – sehr bewusst eins wird – dann wird man nicht übernommen davon, wird nicht kontrolliert. Es ist ein bewusstes Einswerden mit einem gewissen Inhalt, sei es ein gedanklicher Inhalt oder eine Sinneswahrnehmung.

Bodhidharma

Man sagt, die Meditationsschule des Buddhismus, Dhyāna, sei vom indischen Mönch namens Bodhidharma nach China eingeführt worden. Man sagt auch, er habe nichts gelehrt; er habe sich einfach vor eine kahle Felswand gesetzt und diese angestarrt, Tag und Nacht. Er kam also nicht wie ein Lehrer und referierte über Dhyāna, Zen. Er gab nicht irgendwelche Gedanken zum Besten, sondern zeigte direkt, was Zen ist. Er setzte sich vor die kahle Felswand und starrte sie Tag und Nacht an. Darum wird er oft mit weit offenen Glotzaugen dargestellt. Was bedeutet das?

Die kahle Felswand ist leer, da sind keine Bilder drauf gemalt, keine Worte drauf geschrieben und sie ist felsenfest. Das bedeutet, Bodhidharmas Geist war leer und stark, eins geworden mit der Felswand. Also keine Gedanken, keine Gefühle, keine Empfindungen, nichts «Ichiges», sondern einfach nur dieser Zustand des reinen Bewusstseins. Das Bewusstsein wurde wie eine Felswand.
Heutzutage sagt keiner: «Setze dich vor eine kahle Felswand», aber man sagt, wer durch Meditation sein wahres Wesen realisieren will, soll seinen Geist «aufrichten», wie eine eiserne Wand. So dass das Bewusstsein in den klaren und vollkommen unbeweglichen Zustand kommt.

Das heisst aber nicht, dass man die Zähne zusammenbeisst und mit starrer Haltung und verzerrtem Gesicht dasitzt in der Absicht «Meditation zu machen». Nein! Man sitzt einfach ohne Gedanken, fest und ohne abgelenkt zu werden, im Zustand der fundamentalen Stille.

Es ist nun mal sehr wichtig, dass man sich klar wird darüber, was echte, inhaltslose, vorstellungslose Meditation ist. Hat man diesen Zustand einmal erreicht und etabliert, dann kann man sich auch der Meditation mit Inhalt (z. B. ein Koan) zuwenden. Weil man dann die unerschütterliche Konzentrationsfähigkeit hat, die nötig ist.

Zen im Alltag …

Der Zen-Weg ist ein wahrhaftiger Lebensweg; er betrifft die ganze Existenz der Person. Das muss im Alltag zum Ausdruck kommen. Es ist ein Trainieren, ein tägliches Trainieren des Gewahrseins. Gewahrsein! Bewusstsein! Ein bewusstes Sein!

Man übt dies nicht nur beim Zazen, der Sitzmeditation, sondern auch, wenn man aktiv ist; bei der Arbeit oder bei sonst einer alltäglichen Verrichtung. Man ist sich dessen, was man tut, vollkommen gewahr, verbindet sich damit. Dann ist jedes Handeln, jedes Tun ein sehr bewusstes Tun, ein Einswerden mit dem, was man tut.

Das aktuelle, gelebte Zen hat also zwei Aspekte: einerseits die sitzende Meditation im absolut stillen, unbeweglichen, leeren Geisteszustand, andererseits die Meditation in Bewegung. Meditation im Tun bedeutet, die Stille des entleerten Geistes lebendig zu machen. Wenn man beide Aspekte im Alltag verwirklicht, wird der Geist immer klarer, das Gefühlsleben intensiver, die Wahrnehmung weniger verzerrt und das Handeln harmonischer.

…wirkt sich positiv aus

Wenn man in diesem Gewahrsein lebt, dann wirkt sich das im Alltag positiv aus, auf alle und alles, womit man in Kontakt kommt. Man wird zum Beispiel eine «bessere» Mutter, ein «besserer» Vater, ein «besserer» Partner, eine «bessere» Partnerin, ein «besserer» Mitarbeiter usw. Psychologisch lässt sich das leicht erklären: Man ist nicht so von sich selbst «besetzt». Man legt den Kindern und anderen Mitmenschen nicht so viele Bedingungen auf, die sich später als Probleme äussern. Wenn man sich selbst kennt und bewusst tut oder nicht tut, was man tut oder nicht tut, ist man frei von den unbewussten Mechanismen der Projektion und Identifikation.

Also noch einmal: Man kann sein wahre Wesen nur realisieren durch richtige, echte Meditation. Und ein Zen, das sich nicht in die Anwendung des täglichen Lebens übersetzt, ist ein ziemlich wertloses Zen.


Der rote Faden des Dharma

Dies ist der Titel eines neuen Buches, das demnächst (Herbst 2020) in der Reihe Der Springende Punkt erscheinen wird. Aber eigentlich ist es nicht nur neu, es ist auch alt, sogar sehr alt. Alt ist es insofern, als dass es schon vor mehr als 20 Jahren unter dem Titel Als Zen noch nicht Zen war -Worte und Taten der alten Meditationsmeister geschrieben wurde.

Sehr alt ist es insofern, als dass sich sein Inhalt ungefähr auf die Epoche zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung bezieht. Neu ist es insofern, als dass es total überarbeitet ist, ergänzt und aktualisiert, und den neuen Titel Der rote Faden des Dharma bekommen hat. Oder anders gesagt: Der (zeitlose) Inhalt wird ins (zeitlose) Licht gestellt und neu beleuchtet.

Der Anlass für diese Erneuerung war nicht nur die Tatsache, dass das Buch Als Zen noch nicht Zen war bald vergriffen ist, aber immer noch auf Interesse stösst, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass seine zeitlose Botschaft in einer verwaschenen und zu engen Kleidung steckte. Während es vor zwanzig Jahren hauptsächlich darum ging, die Wurzeln des Zen-Buddhismus aufzuzeigen, so soll diesmal vielmehr gezeigt werden, wie die Weisheit der alten Meditationsmeister uns heute mehr denn je als Orientierung und Ermunterung auf dem eigenen geistigen Weg helfen kann, und zwar nicht nur in der Zen-Tradition. Das neue Buch richtet sich deshalb nicht nur an diesen Kreis.

«Die Geschichte einer Tradition zu studieren, bedeutet, mit ihren Urahnen in Kontakt zu kommen. Und mit den Urahnen in Kontakt zu kommen bedeutet, etwas über sich selbst zu erfahren. Denn die geistige Quelle, die die Urahnen inspirierte ist dieselbe, die uns heute ernährt.»

H. Dumoulin
Die Weitergabe des Lichts

Shakyamuni Buddha war ein Mensch, der das Wesen des menschlichen Lebens gründlich studiert hatte und zum Schluss gekommen war, dass die Menschen für Glück und Leid selbst verantwortlich sind. Er hat mit Wort und Tat gezeigt, wie jeder dank der eigenen Erkenntniskraft aus dem allgemeinen traumähnlichen Zustand erwachen kann. Dank seiner grenzenlosen Weisheit und seines bedingungslosen Mitgefühls für alle Lebewesen, verstand er es, den Verstand und das Herz vieler Menschen zu erreichen und die Flamme der Selbsterkenntnis – im wahren Sinne des Wortes: Erkenntnis des wahren Selbst – in ihrem Geist zu entzünden.

Er predigte keine Theologie, keine Philosophie; er sprach nur von seiner eigenen Erfahrung, der Freiheit von allen «ismen», allen geistigen Täuschungen und Hindernissen und Ängsten und er zeigte einen Weg, der zu dieser Erfahrung führt. Und in der Tat: Viele Zuhörer, die seinen Erläuterungen folgten und in die Tat umsetzten, gelangten zu derselben Freiheit.

Wenn der Buddha sah, dass eine Person zur grösstmöglichen Erkenntnis ihrer Geistesessenz und der Wirklichkeit gelangt war, übertrug er ihr die Aufgabe, nun selbst als Fackelträger zu wirken und das Licht an andere weiterzugeben. Dem ältesten und weisesten unter ihnen, sein Name war Mahakasyapa, übergab er das sogenannte Dharma-Siegel.

Bestätigung

Dieses Siegel ist eine Art Bestätigung und Bekanntgabe, dass die betroffene Person auf Grund ihrer Klarsicht und entsprechenden Lebensführung in der Lage und befugt ist, andere auf dem geistigen Weg zu führen und zu begleiten. Praktisch bedeutete dies, dass Mahakashyapa nach Buddhas Tod als dessen Dharma-Erbe der Vorsteher der Sangha (der Gemeinschaft der Anhänger Buddhas) und der Hüter des wahren Buddha-Dharmas (der Lehre des Buddha) galt.

Als seine Zeit der Lehrtätigkeit vorbei war, übergab er das Dharma-Siegel und das damit verbundene Amt an Ananda, der es seinerseits an einen Schüler weitergab. Diese direkte, persönliche Erbfolge galt als Garant für die unverfälschte Weitergabe von Buddhas Lehre. In der Chronik Denkō-Roku – Die Weitergabe des Lichtes sind achtundzwanzig indische und sechs chinesische Dharma-Erben namentlich genannt. In diesem Kontext tragen sie den Titel «Patriarch».

Im Buch Der rote Faden des Dharma wird die Geschichte derjenigen Patriarchen nachzeichnet, die ab dem 6. Jahrhundert in China tätig waren. Ihre chinesischen Namen sind: Bodhidharma, Hui-k’o, Seng-t’san, Tao-shin, Hung-jen, Hui-neng.

Bodhidharma vereinigt in sich die Stellung des achtundzwanzigsten indischen und des ersten chinesische Patriarchen.

Die Betonung der Praxis

Zu jener Zeit war der Buddhismus in China schon recht bekannt und etabliert. Allerdings hauptsächlich in seinem philosophischen Aspekt. Es gab Tempel und Klöster und eine Priesterschaft, die die Lehre verbreitete und zum Teil am kaiserlichen Hof in offizieller Funktion das Ansehen und die Macht der Herrscher untermauerten. Die Besonderheit bzw. das Neue im Wirken von Bodhidharma und seinen Nachfolgern war der direkte Bezug zum täglichen Leben. Sie hielten nicht viel vom Gelehrtentum der etablierten Priesterschaft. Im Gegensatz zu diesen, appellierten sie an die direkte Erfahrung eines jeden Menschen durch Meditation, Dhyāna.

Der analytische, philosophische Geist des indischen Buddhismus und der pragmatische, lebensnahe Geist des heimischen Taoismus vereinigten sich in China zur neuen Meditationsschule Chan. Diese Geschichte wird in Der rote Faden des Dharma nachgezeichnet. Später verbreitete sich Chan in ganz Asien und entwickelte durch viele kulturelle Impulse der jeweiligen Länder unterschiedliche Ausformungen. Alle traditionellen Chan- und Zenschulen berufen sich jedoch auf die sechs bzw. achtundzwanzig ursprünglichen Stammhalter des Buddha-Dharmas. Sie öffneten die Quelle, aus der wir auch heute noch trinken.

Herz und Verstand

Die Basis der chinesischen Meditationsschule zeigt sich deutlich in den folgenden zwei Aussagen von Bodhidharma:

«(Dhyāna) ist eine besondere Überlieferung ausserhalb der Schriften, unabhängig von Wort und Buchstaben. Sie weist unmittelbar auf das Herz des Menschen und lässt ihn die (eigene) Natur schauen und die Buddhaschaft erlangen.»

Mit Herz ist hier nicht das Körperorgan gemeint, auch nicht das psychologische Symbol für die sentimentalen Liebe oder ihr Gegenteil, die sprichwörtliche «Mördergrube». In der chinesischen Sprache gibt es ein Schriftzeichen, dass sowohl «Herz» als auch als «Geist» bedeutet. Herz steht für den nicht rationalen, intuitiven, mitfühlenden Aspekt des Geistes. Die chinesische Sprache verwendet für beide dasselbe Wort (hsin). Einige andere Synonyme sind: bedingungslose Liebe, absolute Liebe, Gott, Mitgefühl, Herzgeist, Agape (griech.), Metta (pali).

«Viele Wege führen zum Tao, doch im Grunde genommen sind es nur zwei: Verstand und Praxis.»

Verstand

Das Wort Verstand bedeutet in der Sprache Bodhidharmas mehr als die mentale Intelligenz, die wir normalerweise Verstand nennen. Es bezeichnet sowohl die natürliche Denk- und Erkenntnisfähigkeit (lat. intellegere = einsehen, verstehen, begreifen), mit der wir unser Leben meistern, als auch das intuitive Erfassen einer Gesamtsituation oder einer Wahrheit, das über das Denken hinausgeht oder, anders gesagt, den ganzen Denkprozess umgeht, indem es völlig spontan und frei funktioniert.

Die Synonyme Erkenntnisfähigkeit, Verstehen, Vernunft, Einsicht, Weisheit sind alle miteingeschlossen. Die Basis aller dieser Aspekte bildet die fundamentale, universale «Weisheit», die im Buddhismus mit dem Sanskritwort Prajñā umschrieben wird. Bezeichnenderweise lässt sich die Bedeutung von Prajñā in keiner westlichen Sprache befriedigend übersetzen, denn sie liegt nicht im Bereich des auf Erinnerung basierenden Denkens und der menschlichen Logik.

Dieser Verstand ermöglicht uns Menschen nach aussen, Probleme zu erkennen, Schlüsse zu ziehen und unser Handeln den Gegebenheiten anzupassen, zu planen. Ohne Verstand lebt man blind in den Tag hinein und man ist viel Unbill unterworfen. Nach innen ermöglicht dieselbe Gabe das Erkennen des eigenen Bewusstseins mit all seinen Inhalten und Tendenzen; aber auch das wortlose Erfassen der in Sutras und ähnlichen Schriften in Worte gefassten Wahrheit ist ihr zu verdanken.

Rechtes Verstehen und rechtes Tun, ein klarer Verstand und ein mitfühlendes Herz, das sind die beiden Beine, mit denen man auf dem Grossen Weg geht. So wie kleine Kinder lernen müssen, ihre körperlichen Beine richtig zu benutzen, so müssen grosse Kinder lernen, ihre geistigen Beine richtig zu benutzen. Das ist das Wesen der Botschaft, die Bodhidharma in China eingeführt hat und die heute so neu und so aktuell ist, wie damals.

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Zum Schluss noch dies …

Wir haben vor kurzem zwei computerbezogene Projekte in Angriff genommen. Beide befinden sich in einem fortdauernden Prozess.

Das erste Projekt ist die Erstellung einer Website mit dem Titel «krishnamurtis-welt». Wie der Name schon andeutet, wird auf der Website das Gedankengut von J. Krishnamurti in deutscher Sprache präsentiert. Diese Tatsache allein macht sie schon zu einer Rarität, da sie meines Wissens die einzige Website auf der Welt ist, die sich dieser Aufgabe widmet.

Wenn Sie mit dem Werk von J.K. nicht vertraut sind, empfehle ich Ihnen, einige der Angebote auf der Website zu erkunden. Sie werden bald sehen, dass sein Denken ohne weiteres mit den Lehren des Buddhas vergleichbar ist. Er sprach, wie der Buddha im «Klartext». Der einzige Unterschied besteht darin, dass J.K.’s Worte die eines Lehrers des 20. Jahrhunderts sind, gerichtet an Frau und Mann des 20. Jahrhunderts.

Es gibt natürlich keinen wahrnehmbaren Unterschied zwischen Mann und Frau des 20. Jahrhunderts und des 6. Jahrhunderts. Gier, Wut und Unwissenheit sind heute leider die gleichen wie zu Buddhas Zeit. Nur, wie es scheint, in einem viel grösseren Ausmass.

Falls Sie an der Beantwortung der Frage «Wer bin ich?» interessiert sind, dann könnte J.K. Ihnen höchstwahrscheinlich behilflich sein.

Man kann sich auf der Website registrieren und wird dann automatisch benachrichtigt, sobald ein neuer Eintrag aufgeschaltet wird.

Das zweite Projekt ist eine totale Erneuerung der Website des Zentrums für Zen-Buddhismus.

Die Frage «Warum?» wird auf der Website selbst beantwortet.

Wir hoffen, dass Sie die Seite benutzerfreundlicher und ein bisschen «grüner» finden. 🙂

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Sommer 2020

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