Ein-Finger-Zen

Ein-Finger-Zen, H. Platov, Teisho vom 12.08.1989

Ein-Finger-Zen – Anhand eines traditionellen Zen-Koans erläutert H. Platov die Bedeutung der ursprünglichen Einheit aller Existenz und die Bedeutung, die das menschliche Ich-Bewusstsein in der Herausbildung der generellen Dualität spielt, die das menschliche Leben prägt. Er erklärt echte Meditation als «Rückkehr zur Wurzel», wobei «Wurzel» die ursprüngliche einheitliche Natur des Geistes bedeutet. Die Hauptbetonung liegt auf der Überwindung der Ichhaftigkeit, die sich darin zeigt, dass man sich nicht mehr mit den vorübergehenden Gedanken und Gefühlen identifiziert und vom Einheitszustand abspaltet.

Gutei und sein Schüler

Diese Zen-Geschichte ist ziemlich berühmt:
Vor langer Zeit lebte ein Zen-Meister. Er zeigt das Zen auf seine Weise so, dass er auf jegliche Frage, auf jegliches Wissen-Wollen, immer nur einen Zeigefinger streckte. Sein Name war Gutei, und man spricht von «Guteis Ein-Finger-Zen».

Einer seiner Schüler, ein Novize, hatte es sich zu Gewohnheit gemacht, seinen Lehrer zu imitieren. Wenn er ins Dorf ging, um das Notwendige zu besorgen, kam es vor, dass ihm die Dorfbewohner allerlei Fragen über den Buddhismus stellten. Vielleicht dachten sie, da er ein Schüler des Meister sei, habe er ein gewisses Wissen.

Einmal fragte ihn jemand: «Welches Dharma lehrt der Meister?» Und der Junge machte einfach so (H. Platov hebt den Zeigefinger). Meister Gutei erfuhr davon und eines Tages rief er den Jungen zu sich. Er hob einen Finger und der Novize imitierte diese Geste ganz automatisch. Da packte Gutei seinen Finger und schnitt ihn ab. Natürlich schrie der Junge laut auf, – das muss man sich einmal vorstellen, der Finger wird abgeschnitten – da hat er geschrien vor Schmerz!

Gutei hob wieder seinen Finger und der Junge wollte dies auch tun, aber da war kein Finger mehr.

Ganz einfach gesagt: Was ist die Bedeutung dieser Geschichte, dieser Angelegenheit. Ein Finger da – und kein Finger da.

Verkörperung

Es geht hier um die sogenannte Verkörperung. Wir Menschen leben in einer Erscheinungswelt – einer Welt, wie sie sich den Sinnen darstellt. Im chinesischen Denken sind sämtliche Erscheinungsformen, ob sie nun lebendig sind oder nicht, Dinge. Dinge sind also nicht nur sogenannte tote Dinge; Lebewesen werden auch als Dinge bezeichnet. In unserer westlichen Denkweise sagen wir: «Ich bin doch kein Ding, ich bin doch ein Mensch. Dinge sind das, was mich umgibt, das, was ich benutze. Aber ich bin doch kein Ding.»

Vielleicht ist dieses Denken falsch. Man kann zwar unterscheiden: Das eine sind Dinge und das andere sind Lebewesen, aber das ist an sich nicht so wichtig. Das Wichtige an der Sache ist, dass sämtliche Erscheinungsformen Verkörperungen unseres Denkens, also unseres Geistes sind. In der Physik z.B. spricht man zwar von Materie, aber man kennt auch Zustände, die noch nicht materialisiert sind, subtile Energieformen, die indirekt in Erscheinung treten und sich dementsprechend verkörpern. Wenn man Körper sagt, meint man nicht nur den Menschen- oder Tierkörper – alle Dinge sind in diesem Sinne Körper.

Im Rahmen der theoretischen Wissenschaft sieht man das so, aber gewöhnlich denkt man bei «Verkörperung» an Lebewesen. Man sieht das Körperliche als Materie; aber da ist auch etwas anderes, etwas Geistiges oder Seelisches, das das Leben ausmacht. Es stellt sich also die Frage: Was hat sich verkörpert ? Es ist Geist oder Bewusstsein, das sich verkörpert hat, in der menschlichen Welt, in der Tierwelt, ja sogar in der Pflanzenwelt. Alle Lebensformen wären dann die Verkörperungen verschiedener Bewusstseinszustände.

Bewusstseinszustände

Man weiss heute, dass sich die Pflanzenwelt tatsächlich auch in einem Bewusstseinszustand befindet – nicht in einem menschlichen Bewusstseinszustand, sondern in einem quasi unbewussten Schlafzustand, in einem vegetativen Zustand.

Die Tierwelt ist in einem Traumzustand und der Mensch in einem ich-bewussten, zu sich selbst erwachten, bewussten Zustand. Darum würde man sagen: Alle Lebensformen sind Verkörperungen von etwas Seelischem, Geistigem oder wie man es auch nennen will, von etwas, das sich verkörpert in der Materie.

Der Körper setzt sich zusammen aus Materie: Es gibt das Erdelemente in diesem Körper – zum Beispiel die Knochen – es gibt das Wasserelement – 60 Prozent unseres Körpers sind Wasser – da ist das Luftelement, das Lebenselement Atmen – wir müssen andauernd atmen. Wo Lebensprozesse sind, ist auch Wärme, also Feuer. Ganz archaisch ausgedrückt: Ein lebendiger Körper setzt sich aus diesen vier grossen Elementen zusammen.

Aber da ist das geistige Element. Ob man es als Geist oder Seele sieht hängt vom religiösen und philosophischen Rahmen des Denkens ab. In der christlich-judäischen Religion zum Beispiel spricht man von der die Dreieinigkeit von Körper, Seele und Geist. Die Seele ist das den Körper-Belebende und der Geist ist das, mit dem man etwas erkennt; Erkenntnisvermögen schreibt man dem Geist zu. Im Buddhismus ist es das Bewusstsein.

Setzt man Geist gleich mit Bewusstsein, dann kann man sehen, dass es verschiedene Bewusstseinszustände, verschiedene Geisteszustände gibt: der vegetative Bewusstseinszustand, der unbewusste Bewusstseinszustand und der bewusste Bewusstseinszustand; das erlebt man ja jeden Tag. Jeder Mensch erlebt das: Wenn er schläft ist er im unbewussten Zustand des Bewusstseins – im Traumzustand. Im sogenannten Wachzustand des Alltags ist er im ich-bewussten Zustand. Das wäre sozusagen das gewöhnliche Spektrum des Bewusstseins.

Zwei = Eins

Also unterscheidet unserer Denken zwischen Geist und Materie und wir sehen diese als zwei verschiedene Dinge. Aber diese verschiedenen Dinge – diese zwei – sind in der Aktualität eine Einheit. Körper und Seele oder Körper und Geist sind eins. Die Erkenntnis der Körper-Seele-Einheit führte z.B. in der Medizin oder in der Psychiatrie zur Lehre der Psychosomatik.

Der Lebensprozess ist eine Einheit, aber der Mensch ist durch sein Ich-Bewusstsein ein gespaltenes Wesen. In einer Hinsicht ist er von der Lebensrealität abgespaltet und andererseits ist er in sich selbst zweigeteilt. Das bedeutet immer währender Konflikt.

Doch im Grunde wissen wissen wir, dass die Wirklichkeit trotz aller Verschiedenheit eine Einheit ist: Wir sprechen vom Universum – Uni oder vom Monotheismus, einer Schöpfungskraft. Alle Verschiedenheiten sind im Wesentlichen und im Grunde Aspekte einer Einheit. Wenn diese Verschiedenheiten zusammenwirken, also in sogenannter Symbiose sind, dann besteht Harmonie.

Wenn zum Beispiel die Körperorgane in Symbiose sind, ist man gesund. Wenn ein Körperorgan aus dieser Symbiose austritt, Magen, Herz, Nieren usw., dann ist man krank. Das ganzen Universum ist eine Angelegenheit von Harmonie und Disharmonie.

Gutei wies mit seiner Geste des einen Fingers auf die verkörperte Einheit von Geist und Körper hin. Das war seine Antwort auf jede existentielle Frage wie: Wer bin ich? Bin ich ein materielles Wesen? Bin ich ein geistiges Wesen? – Ich bin beides, ein materielles und ein geistiges Wesen in einem.

Körper und Geist sollten doch eigentlich sehr schön harmonisch ineinander wirken, doch warum tun sie das nicht?

Konflikt

Unser Denkvermögen und unsere Gefühle können im Konflikt sein; Gefühle können mit sich selbst im Konflikt sein wie zum Beispiel Liebe und Hass; Vorstellungen können Konflikte erzeugen; abstraktes und konkretes Denken können sich widersprechen. Das menschliche Denken ist prinzipiell dualistisch ausgerichtet. Alle unsere Ansichten und unser ganzes Leben ist dualistisch bedingt: Körper und Geist, klein und gross, schwach und stark, dumm und klug, schön und hässlich, arm und reich, krank und gesund. Wie gesagt, wo man auch hinspuckt – andauernd Dualität.

Im Körper stehen sich die Funktion des Instinktiven einerseits und das Denken andrerseits gegenüber. Oft wird gesagt, das Instinktive müsse verdrängt und zurückgesetzt werden, um gewissen Ideen gerecht zu werden. Dadurch kommt die Person in einen innerlichen Konflikt. Sie ist sich dieses Konfliktes nicht unbedingt gewahr, er zeigt sich aber sehr oft im Traumleben.

Im alten Indien und in China hatte man früh erkannt, dass diese Dualität eine menschliche Realität ist und dass sich die Gegensätze oft feindlich gegenübersehen. Daher entstanden schon früh philosophische und religiöse Praktiken, die die Harmonisierung von Körper und Geist anstrebten. Man nennt das die «Versöhnung der Gegensätze». Diese Versöhnung soll unter anderem durch Yoga erreicht werden.

Gehen wir damit noch einen Schritt weiter, dann geht es nicht nur darum, die Gegensätze in sich selbst zu versöhnen, sondern die Gegensätze zu transzendieren. Also einen Überbewusstseinszustand zu erlangen, nicht den gewöhnlichen dualistischen Bewusstseinszustand, sondern einen über diesem stehenden Bewusstseinszustand.

Das Ich-Bewusstsein

Der springende Punkt dieser Angelegenheit ist das Ich-Bewusstsein. Die Natur versucht immer, den harmonischen Zustand herbeizuführen, wenn etwas aus der Balance ist. Man kann dies überall in der Natur beobachten. Beim Menschen stellt sich auch das Ich-Bewusstsein ganz natürlich ein. Eigentlich ist es etwas ganz Einzigartiges, dass sich in der Menschenwelt im Laufe der Evolution ein Ich-Bewusstsein herausgestellt hat. Es ist einfach da: Ich als Ich. Jedes menschliche Lebewesen sagt ich. Ein weibliches Wesen sagt ich, ein männliches Wesen sagt ich, ein kluges Wesen, ein dummes Wesen – alle sagen ich.

Vom Standpunkt der Religion ist dieses Ich-Bewusstsein ein Ausdruck von etwas ganz Ureigenem. Buddha gelangte durch seine Meditationsübung zur vollkommenen Erkenntnis (Anuttara Samyak Sambodhi); und dann stand er auf und sagte: «Ich bin Buddha». Er sagte nicht mehr: «Ich bin Siddharta Gautama», sondern: «Ich bin Buddha, der Wissende, der vollkommen Erwachte.» Er sah nach einer langen Meditation beim Anblick des Morgensterns die große Einheit des ganzen Universums – ungetrennt von sich selbst – und sagte: «Ich bin Buddha».

Das ist ein ganz anderes Ich-Bewusstsein als das persönlichen Ich, mit dem man gewöhnlich in der Welt herumrennt. Mein persönliches Ich, mein weibliches Ich, mein männliches Ich, mein minderwertiges Ich oder das Umgekehrte davon – nicht wahr?

Auch Jesus von Nazareth stand im überpersönlichen Ich-Zustand, als er sagte: «Ich und der Vater sind eins», und auf die Frage, wer er sei, antwortete: «Ehe Abraham war, bin ich!»

Und so findet man in allen Religionen – in der judäisch-christlichen Religion oder im Hinduismus oder im Buddhismus – die grundlegende Aufforderung: Erkenne dein wirkliches Ich!

Das gespaltene Ich

Aber nun geschieht etwas sehr Merkwürdiges mit dieser Ich-Angelegenheit. Wenn das kleine Kind zu seinem Ich-Bewusstsein kommt, ist es noch in einer sehr ursprünglichen Einheit. Es hat noch eine innere Verbindung mit seiner wahren Natur. Darum sagte auch Jesu: «Lasst die kleinen Kinder zu mir kommen,» und: «Wenn du nicht wirst wie ein kleines Kind, kannst du nicht in den Himmel kommen.» Er meinte natürlich nicht den Himmel, in den man angeblich kommt, wenn man stirbt, sondern einen inneren Bewusstseinszustand. Doch dann wird dieses Ich-Bewusstsein herumgeschoben und durcheinander geschüttelt – die menschliche Gesellschaft tut sich das an – und nun ist das Ich-Bewusstsein nicht mehr so, wie es ursprünglich war.

Nun ist das Ich-Bewusstsein etwas, das dazwischen kommt; es teilt die ehemalige Einheit, den ehemaligen Einheitszustand, in zwei. Man könnte auch sagen: Es ist wie ein Beil, das einen Baumstamm spaltet. Der Mensch wird sehr oft symbolisch als ein Lebensbaum dargestellt und dieses Ich-Bewusstsein – nicht das frühkindliche Ich-Bewusstsein, sondern das spätere Ich-Bewusstsein – trennt sich in seiner Ich-Betonung davon ab. «Ich bin eine Frau», «Ich bin ein Mann», «Ich bin klug», «Ich bin dumm!»

Darum wird einem gesagt: «Nimm das Beil heraus, nimm dieses Ich heraus, damit der Baum wieder eins wird.» Das macht man durch Meditation. Wenn man meditiert, soll man nicht «ichig» meditieren, sondern im Gegenteil vollkommen «un-ichig» in die Meditation eintauchen. Dann zeigt der Baum seinen Einheitszustand, den sogenannten Samadhi-Zustand.

Der Finger ist weg

Gutei zeigte also immer nur den einen Finger – die Verkörperung des Einen, das Geistige und das Körperliche in einem, so: (H. Platov hebt seinen Finger). Der nachahmende Mönch tat dies ebenfalls, so als ob er ein Spiegelbild von Gutei wäre. Da nahm Gutei seinen Finger und schnitt ihn einfach ab. Die alten Meister trugen immer ein Etui mit einem Messer und Essstäbchen bei sich; mit dem Messer zerschnitten sie ihre Speise und assen die Stücke mit den Essstäbchen.

Gutei nahm also das Messer aus dem Etui, packte den Finger und schnitt ihn ab. Der Mönch schrie natürlich: «Auuahhhh». Das tut ja weh, nicht wahr? In diesem Moment machte Gutei so – (H.B. hebt einen Finger). Der Junge, der im Begriff war, es ihm gleich zu tun, realisiert: Da war kein Finger mehr!

Darum sagt man denen, die meditieren, um ihr wahres Ich zu erfahren: Entferne zuerst einmal dieses Ich von all dem – na, ich würde sagen von all dem Zeug – gedankliches Zeug, eingeredetes und eingebildetes Zeug. Lass ab von all diesen Gefühlen und Emotionen und Empfindungen und die Vergangenheit und die Zukunft und was man gerade …. Gehe einfach in den ichlosen Meditationszustand, gehe weg von all den Einzelheiten, all den Bewusstseinsinhalten, die sich von Geburt her angesammelt haben, sodass du in den Einheitszustand oder ins Samadhi kommst.

Dann ist das Ich nicht mehr wie ein Beil, das den Baum in zwei Teile spaltet, kein gespaltener, in sich konfliktueller Zustand. Der Einheitszustand, Samadhi, ist frei von dem an den Inhalten haftenden Ich. Da gibt es keine Identität, die im Zusammenhang steht mit dem, woran man haftet, kein Ich, kein Mein, ich als diese und jenes, mein dieses und jenes.

Identität = Anhaften

Denn es ist dieses Anhaften, das einem eine Identität gibt: Das ist mein Denken, das ist mein Empfinden, das sind meine Emotionen, das sind meine Gefühle, mein Erleben. Wenn man an nichts haftet, verliert das Ich seine Identität; es ist nicht männlich, es ist nicht weiblich, es ist nicht klug, es ist nicht dumm. Im Erlebnis des Samadhi durch richtige Meditation ist das Ich nicht mehr das persönliche Ich. Dann ist dieses Ich Buddha, dann ist dieses Ich Christos in einem selbst. Dieses Ich und seine wahre Natur ist keine Wahnvorstellung, kein Wunschdenken – es verhält sich so.

Das Interessante am Zeigefinger ist natürlich, dass dieser nicht sagt: «Ich bin der Zeigefinger!» Er zeigt auf den Mond und sagt nicht: «Ich bin der Mond.»

Man kann dies auch als eine Yoga-Übung benutzen, die man Samjana nennt. Dabei geht es, um die Einswerdung (sam = eins; jana = Bewusstsein) des Bewusstseins mit einem Objekt. Man könnte also sagen: «Schau auf diesen Finger hier; schaue auf nichts anderes als auf diesen Finger; lass keinerlei Gedanken aufkommen, keine Empfindungen, keine Gefühle. Nur das Bewusstsein und der Finger als Inhalt dieses Bewusstseins. Nichts anderes. Wenn auch nur für 60 Sekunden – nur diesen Finger – versuch es mal! Und dann nicht nur für 60 Sekunden, das ist eine Minute, sondern für 10 Minuten, 20 Minuten. Finger als Objekt und Bewusstsein als Subjekt werden eins.

Diese Finger-Schauen, diese Konzentration auf den Finger kann ein Eingang sein ins Samadhi. Solche Übungen sind furchtbar einfach; sie sind aber sehr schwierig durchzuführen, weil wir andauernd mit unseren Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen und Erlebnissen beschäftigt sind. Wir haben also einerseits das Ich, das spaltend wirkt, und andererseits das Ich, das zur wahrhaftigen Einheit führt. Das ist sehr paradox.

Rückkehr zur Wurzel

Man könnte noch viel darüber sagen, wie sich dieses persönliche Ich – ich und mein Körper, ich und mein Leben – in seine wahrhaftige Natur verwandelt. Wie sich das Ich-Bewusstsein durch seine zunehmende Herausstellung und Identifizierung mit allem, was drum und dran hängt von seiner Wurzel, seinem Ursprung entfernt. Und wie es durch die «Rückkehr zur Wurzel» sein wirkliches Wesen, seinen Ursprung wiederfindet.

Das geht nicht durch Denken, Emotionen oder Gefühle, es geht nur durch richtige, echte Meditation. Durch richtige, echte Meditation kann das Ich-Bewusstsein, statt ein Hindernis zu sein, zu einer Brücke werden, statt zu teilen und zu entzweien, zu seiner ursprünglichen Einheit finden. Solange das Bewusstsein an allen möglichen Zuständen und Inhalten haftet und sich darin verliert, kann es seine wahrhaftige wahre Funktion nicht erfüllen, bzw. seiner wahrhaftigen Funktion nicht gerecht werden. Deshalb gilt für rechte Meditation: Entferne dich von sämtlichen Bewusstseinsinhalten und vertiefe dich in das reine absolute Bewusstsein.

Im berühmten Zen-Kloster Nanzen-ji in Kyoto gibt es auf einer Faltwand eine kalligraphische Inschrift mit der Bedeutung: «Entleere Deinen Geist und tauche tief ins Tao». Diese Wand gilt als Nationalschatz. Entleere deinen Geist und tauche tief ins Dharma, in die Wahrheit ein! Rechte Meditation bedeutet in erster Linie: Entleerung. Entleerung von sämtlichen mentalen Inhalten, inklusive der Vorstellung von einem persönlichen Ich. Das ist genau dasselbe, was auch die Raja Yoga Schule lehrt.

Mit allen diesen Modifikationen des Bewusstseins – diesen Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Erlebnissen und Emotionen – muss man durch die Sammlung des Geistes Schluss machen und im reinen Gewahrsein verweilen.

Am Ende seines Lebens soll Gutei gesagt haben: «Mein ganzes Leben lang habe ich nur dieses Ein-Finger-Zen gebraucht und habe es immer noch nicht erschöpft.»

Der Zeigefinger

Zum Schluss könnte man auch fragen, warum Gutei den Zeigefinger benutzt hat, warum hat er nicht den Daumen gezeigt oder den kleinen Finger, den Mittelfinger oder den Ringfinger, warum den Zeigefinger?

Nun, wenn wir Menschen auf etwas hinweisen wollen, zeigen wir doch ganz automatisch mit diesem sogenannten Zeigefinger darauf, nicht wahr? Sei es auf uns selbst, oder auf andere, wir zeigen nicht mit dem Daumen, sondern mit dem Zeigefinger darauf.

Auch der Daumen hat eine bestimmte Funktion. Er ist ein sehr interessantes Organ. Man kann drei von vier Finger wegnehmen, aber solange der Daumen bleibt, dann kann man immer noch greifen. Man kann etwas aufheben, schreiben, kurz: Man kann etwas tun. Ohne den Daumen kann man kaum etwas tun. Der Daumen steht den anderen Fingern gegenüber, dadurch wird die Hand zum Greifinstrument.

Berühren sich Indexfinger und Daumen, während die restlichen drei Finger lose gestreckt sind, dann ergibt sich ein sogenanntes Mudra. Mudras sind gewisse Fingerpositionen, die einen geistigen Inhalt zum Ausdruck bringen. Sie werden häufig zur Unterstützung der Meditation benutzt. So: (H. Platov zeigt es). Man kommt in einen Meditationszustand und ist sich gewahr, dass sich diese zwei Finger berühren – aber ganz sachte berühren. Es gibt ganz verschiedene Mudras. Wenn man das Bewusstsein darauf richtet, begünstigen sie verschiedene Bewusstseinszustände.

Im Frage und Antwortspiel der Zen-Schule, Mondo genannt, wird manchmal gefragt: «Wenn du nicht mehr bist – was man Tod nennt – was geschieht dann mit diesem einen Finger?» Man soll diese Frage richtig verstehen: «Wenn du nicht mehr bist, wenn dein Ich und dein Körper gestorben sind, wie verhält es sich mit dem einen Finger?» Würde man die Antwort mit Worten geben, müsste sie natürlich lauten: «Dieser eine Finger ist unzerstörbar.»

Zen=Aktualisierung

Zen ist manchmal eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Es geht immer darum, die Wahrheit zu aktualisieren oder es wenigstens zu versuchen. Der Mönch, der Gutei imitiert hatte, kam durch den Verlust seines Fingers zur Erleuchtung. Dann war sein Nicht-Finger nichts anderes als Guteis Finger. So wird es erzählt, und die heutigen Zen-Schüler sollen dieses Geschehen in sich selbst nachvollziehen. Nicht bloss im Denken, nicht durch Konzeptualisierung, sondern durch Aktualisierung, d.h. durch direktes körperlich-geistiges Erleben. Und das bedarf natürlich einer Anstrengung – sogar einer dauerhaften Anstrengung, vom Moment des Aufwachens bis zum Tagesende, wenn man wieder einschläft, damit man dieses Wachbewusstsein richtig anwendet und nicht verplempert, nicht in allem Möglichen verliert. Es braucht eine Sammlung nach innen.

ein-finger-zen
Ein-Finger-Zen
Nach oben scrollen