Die Grundlage des natürlichen Geistes

Die Grundlage des natürlichen Geistes – Im systematisch gelehrten Buddhismus wird der Schüler mit Absicht in philosophische Auseinandersetzungen verwickelt, damit er nach und nach zum echten Verstehen gelangt. Dabei ist das von Buddha im Achtfachen Pfad zur Erlösung vom Leiden gelehrte Bemühen um rechte Sicht ein zentrales Prinzip. Im Zen benutzen wir dieses Mittel der theoretischen Diskussion kaum. Wir sitzen stattdessen in Meditation und schauen alles, was vor sich geht, direkt an. Dabei richten wir uns Augenmerk auf drei Dinge:

Das Erste betrifft unsere Gewohnheit, alles, was uns gefällt, haben und festhalten zu wollen. Sich von diesem zwanghaften Begehren zu lösen, ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Befreiung. So wie man ein Boot benutzt, um ans andere Ufer eines Flusses zu gelangen, so benutzen wir die geistige Sammlung in der Meditation zur bewussten Loslösung vom Begehren. Nach einer gewissen Zeit, weiss man genau, was Begehren wirklich ist.

Dann hat es keine Macht mehr über einen; man ist nicht länger der Qual unterworfen, nach allem greifen und alles festhalten zu müssen. Dann dauert es eine Zeit lang (vielleicht 30 Jahre), bis überhaupt kein Verlangen mehr aufkommt. So wie ich die Damenkleider in einem Laden ohne Kaufwunsch anschauen kann, obwohl ich ihre Schönheit sehe, oder so, wie ein Mann den besten Baseball-Anzug betrachten kann, ohne den geringsten Wunsch, ihn zu besitzen.

Zweitens befreit man sich von der gedanklichen Verflechtung mit den Formen, so dass man alles betrachten kann, ohne es zu benennen. Um den Kern des Buddhismus zu erfassen, ist es notwendig, den Zustand des reinen Gewahrseins, der ohne Namen und ohne Meinungen ist, zu kennen.

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Der dritte Schritt ist die Befreiung von sich selbst. In der Meditation sieht man deutlich, dass das formlose, namenlose Bewusstsein das Einzige ist, was existiert; es gibt kein wahrnehmendes Subjekt darin. Es gibt kein Ego, kein Selbst und folglich auch kein Objekt. Alles ist eins, und dieses EINE ist das ganze Universum, ein Universum so klein wie eine Nadelspitze und gleichzeitig so gross, dass ein Augenblick eine Million Jahre umfasst.

Wer diese Sicht erreicht, erkennt den Körper, der sämtliche Naturgesetze in sich trägt. Wer hingegen glaubt, es gebe etwas namens „Ich“, das die wahre Natur des Universums als Subjekt wahrnimmt, befindet sich in der Dunkelheit der Ignoranz (Avidyā). In dieser Dunkelheit weiss man nicht, wer man ist noch wo man ist und kann hell und dunkel nicht unterscheiden. Dieses Unwissen ist die primäre Dunkelheit, aus d wir alle geboren wurden.

„Es ist dringend erforderlich, dass ihr echte Einsicht erlangt, damit ihr frei auf dieser Erde gehen könnt …“ Wir können Bewusstsein wahrnehmen, aber wir können es nicht objektiv beweisen, da es niemand und nichts gibt, was Bewusstsein von aussen sehen kann. Wir nennen es „nichts“ oder „Leere“ (Shūnyatā), weil es unmöglich ist, etwas darüber zu sagen. Doch das ganze Universum wird aus dieser Leere geboren. Leere ist also nicht nichts. Es ist ein Speicher von Energie. Alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebenserscheinungen sind darin enthalten. Es „Buddha“ oder „Gott“ zu nennen, ist ein Trugschluss.

Aus diesem Gesichtspunkt ist auch klar, dass uns nichts gehört, euch nicht und mir nicht. Das Universum ist ein Körper, in dessen Leere es nichts zu ergreifen gibt, nichts, was man in der Hand halten kann. Noch kann man etwas weggeben. Etwas anderes zu glauben, ist eine Vermessenheit.

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Im wunschlosen, namenlosen Zustand findet man die Essenz aller Verhaltens-Gebote in sich selbst. Man ist frei zu tun, was man will. Will man sich mit Absicht in irgend etwas verwickeln, kann man dies tun, ohne Schaden zu nehmen.

„…ohne von einem Haufen Geister irregeführt zu werden“. Die irreführenden Geister sind Menschen und Ansichten, die im Namen der Moral Unwahrheiten verkünden, weil sie die wahre Quelle der Moral nie gesehen haben. Sie haben keine klare Sicht, ihr Wissen stammt aus Büchern, nicht aus eigener Erfahrung. Sie wissen nicht, wovon sie reden.

„Der wahrhaft edle Mensch ist der, der den Zustand des Nichts-mehr-tun-müssens erreicht hat.“

Wenn man den formlosen, namenlosen Zustand der Wirklichkeit erlebt hat, wendet man sich erneut den Formen und Farben der gegenwärtigen Welt zu. Doch man geht noch einen Schritt weiter: Während man sich früher auf Grund des Verlangens mit der Welt verband, so ist es jetzt die grosse, universale Liebe, die einen führt. Man gibt und nimmt ohne persönliches Verlangen, denn dieses ist ausgelöscht.

Dieser universale Geist kann sich in jeder täglichen Verrichtung manifestieren, denn das ganze Leben auf der Erde ist Ausdruck davon. Die Kraft der Verdauung ist nicht meine eigene Anstrengung, noch ist die Fähigkeit zu hören und zu sehen mein eigenes Vermögen. Wenn alles eigennützige Denken und Handeln zu Ende gekommen ist, gibt es nichts weiter zu studieren oder zu beweisen. Ein edler Mensch dieser Art braucht keine Villa, keine Propaganda, keine „gute Taten“, um sich gross zu machen. Er weiss, dass dieser Körper in der einen oder anderen Form schon immer existiert hat und dass sein Bewusstsein das ewige Bewusstsein des Universums ist. Wozu dann gekünstelt sein?

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„Aber ihr rennt in der Aussenwelt umher, fragt Nachbarn und Freunde auf der Suche nach jemandem, der euch hilft.“ Bücher? Lehrer? Kirche? Ihr findet dort nichts als Bruchstücke des Wissens. Die Wahrheit ist kein Mosaik aus Einzelteilen, sondern eine immerwährend sprudelnde Quelle der Gegenwart. Sie quillt aus eurem eigenen Herzen. Dort ist sie zu suchen.

„Ihr wollt den Buddha suchen‚ aber ‚Buddha‘ ist nur ein Name. Besser wäre es, den zu kennen, der sucht. Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und der zehn Himmelsrichtungen erscheinen nur dank des Dharmas. Deshalb sollt auch ihr heutigen Schüler nur dieses Dharma suchen. Wenn ihr es erfasst, ist euer Suchen zu Ende. Wenn nicht, wandert ihr weiter in den fünf Welten umher“.

Wenn Lin-chi vom Suchen nach dem Buddha spricht, meint er natürlich nicht den Buddha, der als Prinz Siddharta in Indien verkörpert war. Er spricht von Buddha als dem wissenden, erwachten Bewusstsein. Die Funktion des Wissens existiert aus sich selbst heraus im ganzen Universum; alle Elemente „wissen“ auf das zu reagieren, was wir als die „universale Kraft“ bezeichnen. So ist „Buddha“ zu verstehen.

„Besser wäre es, den zu kennen, der sucht.“ Es ist nicht wichtig, auf das zu achten, was gedacht wird, achtet auf das, was sucht. Es ist das, was die Wahrheit weiss. Ihr aber gleicht einer Grossmutter, die das Enkelkind fragt, wo ihre Brille sei – „Oh, sie ist ja auf meiner Nase.“ Selbst wenn man tausend Jahre lang aussen sucht, man wird den Buddha bzw. das Wissen, das in einem selbst wohnt, niemals finden. Dieser mysteriöse Buddha ist in unzähligen, verschiedenen Zuständen verkörpert und kennt das Gefühl und den Geschmack von jedem einzelnen von ihnen.

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Wir sprechen von verschiedenen Bewusstseinszuständen, aber in Wirklichkeit ist es nur ein Bewusstsein, das sich in alle diese Zustände kleidet, so wie ein Schauspieler viele Kostüme trägt. Für die unterschiedlichen Empfindungen sind nicht verschiedene Wesen in unserem Körper zuständig, sondern nur das eine Bewusstsein; es gibt nicht viele Buddhas, sondern nur einen, der vielen Formen und Farben annimmt. Man kratzt sich die Haut und Buddha fühlt die Empfindung.

Lin-chi sagt, wenn man dies nicht erfasst, dann wandere man „weiter in den fünf Welten umher“. Die „fünf Welten“ sind die fünf grundlegenden Bewusstseinszustände im Bereich des weltlichen Begehrens: die Welt der Höllenbewohner, der hungrigen Geister, der Tiere, der Menschen und der geistigen Wesen Devas oder Dämonen.

„Liebe Brüder, was bedeutet ‚Dharma‘? Dharma ist das Naturgesetz eures Geistes. Es hat keine sichtbare Gestalt und doch wirkt es in allen Richtungen und manifestiert seine Macht direkt vor euren Augen. Wer nicht fest darauf vertraut, jagt weiterhin nach Worten und Namen und spekuliert über Buddhas Dharma. Dabei ist er so weit vom Dharma entfernt wie der Himmel von der Erde.

Nun, von welchem Naturgesetz spreche ich? Ich spreche vom Prinzip, das eurem Geist zugrunde liegt. Es äussert sich frei im Weltlichen und im Erhabenen, im Klaren und im Trüben, im Wirklichen und im Vergänglichen. Aber nicht die Person ist wirklich oder vergänglich, weltlich oder erhaben, sie hängt bloss allen Erscheinungen solche Namen an. Das Wirkliche und Vergängliche, Weltliche und Erhabene dagegen kann euch nichts anhängen. Liebe Brüder, erfasst und nutzt das Gesetz eures Geistes, aber gebt ihm keine Namen. Das ist das fundamentale Gebot.“

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Das Sanskritwort „Dharma“ ist schwer in eine westliche Sprache zu übersetzen. Meistens wird es als „Gesetz“ oder „Gebot“ übersetzt, aber der Begriff wird nicht immer in diesem Sinn benutzt. Manchmal steht er auch für “Wirklichkeit“, „Geistesnatur des Menschen“, „Bewusstsein“ ,“Gewissen“; manchmal bezieht er sich auf die wissenschaftlichen Naturgesetze und manchmal auf das Unfassbare im Gegensatz zu den beschreibbaren Dingen.

In dieser Ansprache sagt Lin-chi, das Dharma sei das Naturgesetz des Geistes, Es ist dieses Etwas in uns, das das tägliche Leben meistert. Vielleicht könnte man es auch das „kosmische Bewusstsein“ nennen oder das „kosmische Gesetz“.

Für dieses Dharma gab Shakyamuni Buddha die Bequemlichkeit seines Königreichs weg wie ein Paar alte Sandalen. Sechs Jahre lang widerstand er allen Versuchungen, lebte von einer Schale Reis pro Tag und meditierte unter Bäumen. Er machte natürlich nicht andauernd Sitzmeditation, er diskutierte auch viele Fragen mit Saddhus (indische Heilige) und Yogis. Aber nach sechs Jahren erleuchtete er sich selbst in der Meditation unter dem Bodhibaum.

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„Es (das Naturgesetz des Geistes) hat keine sichtbare Gestalt und doch wirkt es in allen Richtungen und manifestiert seine Macht direkt vor euren Augen.“„Alle Richtungen“ heisst: Die Weisheit der Natur wirkt im ganzen Universum und durchdringt jede Zelle der Geschöpfe. Das ganze Universum ist ein Körper und eine Seele. Es manifestiert sich „vor unseren Augen“ in allem, was wir sehen, riechen, schmecken, hören, denken und fühlen: in den Tränen, im Zorn, in der Freude oder im Bedauern.

Alles, was wir von morgens früh bis abends spät empfinden, ist Ausdruck unserer Natur. Vielleicht funktioniert das wahre Gesetz nicht immer richtig, Aberglauben und falsche Vorstellungen mögen uns in die Irre führen, aber das Wissen um die Wahrheit ist immer in uns. Wenn man sich ihm nicht verschliesst, wird man es im tiefsten Herzen finden. Seelenschmerz ist sein Versuch, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, auch wenn uns dies nicht bewusst ist.

Man trägt also einen wunderbaren Wegweiser ins sich, aber man vertraut nicht darauf. Man denkt lieber über Begriffe nach und philosophiert über den Buddhismus oder das Christentum. Denkt man, es handle sich um verschiedene Wahrheiten, verschiedene Gesetze? Auf diese Weise kann man das eine Prinzip, das allem Leben zu Grund liegt, sicher nicht finden.

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Demselben Urgrund, der Bäume zum Wachsen und Blumen zum Blühen bringt, entsprangen Buddhas Worte, die wir heute in 5048 Bänden buddhistischer Texte eingefangen haben. Unser Geisteswesen folgt dem gleichen Gesetz wie die Erde, aber beide tun dies auf ihre eigene Art und Weise. Die Erde bewahrt im Winter die Samen und im Frühling belebt sie sie; im Sommer stärkt sie die Bäume und im Herbst empfängt sie die Früchte der Bäume und nimmt die Samen wieder in sich auf. Jedermann, der einen Garten pflegt, kennt das Gesetz der Erde. Ebenso sollten alle, die in diesem Leben etwas schaffen möchten, das Gesetz des geistigen Bodens kennen.

Die Lehre, dass es nur ein fundamentaler Geist oder ein seelisches Wesen ist, das alles belebt, ist bezeichnend für den Buddhismus. Man unterscheidet nicht zwischen einer Katzen- oder Hundeseele, Frosch- oder Schlangenseele, Mann- oder Frauenseele. Es mag so aussehen, als hätte jedes Lebewesen seine einzigartige Seele, aber gemäss Buddhas Erkenntnis gründen die Unterschiede zwischen den Individuen in den verschiedenen Bedingungen in Zeit und Raum.

So wie der elektrische Strom jede Lampe zum Leuchten bringt, die Helligkeit und Farbe des Lichts aber von der Beschaffenheit der Lampe abhängt. Der Geist selbst ist nicht differenziert und ist nicht berührt vom persönlichen Geschick, Karma genannt. Es ist das Karma selbst, das Karma erzeugt. Wer sorgfältig darüber nachdenkt, sollte ohne Weiteres einsehen, dass die wesenhafte Kraft des Universums eine einzige ist, die sich den Umständen entsprechend diversifiziert, so wie die eine Kraft eines Baumes Rinde, Blätter, Blüten, Früchte und Holz hervorbringt.

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Lin-chi betont, dass die seelische Befindlichkeit ihre eigenen Gesetzmässigkeit hat und sich frei in allen Lebensbereichen äussert. Wenn ein Schiff nach links abdriftet, zeigt der Kompass nach rechts und umgekehrt. Ein Kompass in unserem Geist sagt uns genau, wie ein Gleichgewicht hergestellt werden kann. Wenn man hingegen von Vorurteilen getäuscht wird, und nicht auf die wahre Stimme hört, verpasst man ihre Mitteilung. Deshalb ist es das essentielle Gebot für den Menschen, die Vorurteile und alten Gewohnheiten aufzugeben und in jedem Augenblick auf die Hinweise des innewohnenden Gesetzes zu achten. Dann kann dieses menschliche Leben immer wieder ein neues Abenteuer sein.

Mit dem Kultivieren der Achtsamkeit auf das Gebot des Herzens, findet man eine zuverlässige Führung, die einem die Wahrheit exakt vermittelt, so wie ein Boxer weiss, ob er angreifen oder sich zurückziehen soll. Ohne diese Kultivierung verkümmert die innere Stimme und verliert ihre Führungskraft. Der aufrichtige Mensch muss sich nicht darum bemühen, auf diese Stimme zu horchen, sie führt ihn immer. Aber es ist nötig, das Gesetz auf allen drei Ebenen zu verstehen: auf der Ebene des Individuums, der Gemeinschaft und des Universums.

Man mag sagen: „Mein Gewissen führt mich, es zeigt mir, was zu tun ist und was nicht.“ Aber wie gehorsam folgt man dem Flüstern des Gewissens? Folgt man ihm voller Vertrauen? Wenn ja, dann unterscheidet man sich nicht vom Buddha.

„Liebe Brüder, erfasst und nutzt es, aber gebt ihm keine Namen. Das ist das fundamentale Gebot.“ Wenn ihr von „Wirklichkeit“ sprecht, zeigt sie mir! Macht keine philosophische Erklärung! Das ist das Merkmal der Zen-Haltung. Aber wie kann man die Wirklichkeit zeigen? Die Wirklichkeit lässt sich nicht mit Worten, nicht mit Symbolen und nicht mit irgendeinem anderen Mittel des menschlichen Denkens zeigen. Sie zeigt sich selbst in allem, was existiert, auch in euch.

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Philosophisch lässt sich Bewusstsein nicht beweisen, noch kann das Absolute bewiesen werden. Es wurde von niemandem geschaffen, es ist da, war immer da und wird immer da sein. Die Gesetze der Materie lassen sich in Worte fassen, das Gesetz des Geistes kennt keine Worte, trotzdem kennen wir es. Dies ist der springende Punkt im Zen. Worte haben keine Wirklichkeit! Nimm dein Bewusstsein und benutze es! Dieses „nimm und benutze es“ muss allerdings auf echtem Verstehen basieren, anderenfalls kann es gefährlich sein. Der Ellbogen lässt sich nicht in alle Richtungen biegen. Wenn ich euch fragen würde: „Vor Vater und Mutter, was warst du?“, wie würdet ihr antworten?

„Meine Art über das Buddha-Dharma zu sprechen unterscheidet sich von allen anderen Menschen. Angenommen Manjushri oder Samantabhadra würden vor mir erscheinen und mich über das Dharma befragen wollen, ich würde sie, sobald sie ihren Mund öffnen, sofort durchschauen.

Dasselbe trifft zu, wenn ich still dasitze und jemand zu mi kommt, um mit mir zu sprechen; ich durchschaue seine Seele durch und durch. Wie kommt das? Weil meine Sicht anders ist. Äusserlich kümmere ich mich nicht um heilig oder weltlich und innerlich verweile ich nicht im Absoluten. Ich sehe durch alles hindurch und habe nicht den geringsten Zweifel.“

Lin-chis Auffassung des Buddhismus unterschied sich tatsächlich von allen anderen Buddhisten seiner Zeit. Während die etablierten Buddhisten ein hoch differenziertes System von philosophischen Unterscheidungen weitergaben, hielt sich Lin-chi als Zen-Meister nicht bei philosophischen Erklärungen auf.

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Was immer man einen Zen-Meister fragt, er gibt keine Antwort; er ist die Antwort. Fragt man z.B., was echte Stille ist, würden andere in etwa sagen, Stille sei von tiefgründiger Bedeutung und dass man, wenn man tief in den Buddhismus eindringe, die Stille von Nirvāna erlange. Der Zen-Meister hingegen wirft dich direkt hinein – hier! – Das ist es! Nimm es, aber gib ihm keinen Namen:

Du fragst: “Was ist das Universum?“ Er antwortet: „Wo bist du?“
Du fragst: „Was ist Bewusstsein?“ Er sagt: „Benutze das deinige und finde es heraus.“

Diese Direktheit geht auf Shakyamuni-Buddha zurück. Dieser antwortete auf viele Fragen der Brahmanen mit Schweigen. Aber dieses Schweigen ist lauter als Donner, so laut, dass das menschliche Ohr es nicht hören kann!

Im Zen gelten alle Worte als Symbole. Ob man etwas als „Phänomen“ bezeichnet oder als „Numenon“, als „unwirklich“ oder als „wirklich“ hat nichts mit dessen Existenz zu tun. Alle Konzepte sind relativ, über das Absolute lässt sich nichts sagen. Einheit existiert nur relativ zur Vielheit. Jede Einheits-Theorie ist logischerweise falsch, weil Einheit nur durch Vielheit definiert wird. Besteht man nur auf der Einheit, muss man die Vielheit ausschliessen und umgekehrt. Es gibt nichts, das alleine steht ohne Bezug zu etwas anderem.

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„Angenommen Manjushri oder Samantabhadra würden vor mir erscheinen und mich über das Dharma befragen wollen …“ Manjushri und Samantabhadra sind Figuren (Bodhisattvas), die im Buddhismus zwei Aspekte der fundamentalen Weisheit verkörpern. Manjushri steht für das nicht-manifeste, absolute Bewusstsein (Dharmakāya) und Samantabhadra symbolisiert das einheitliche Bewusstsein in jedem einzelnen Lebewesen (Sambhogakāya). Lin-chi benutzt die beiden hier stellvertretend für irgendwelche Schüler; denn jeder weise Mensch mit Einsicht könnte Manjushri oder Samantabhadra genannt werden. Er sagt, selbst wenn Manjushri und Samantabhadra erscheinen würden, um ihn über das Dharma zu befragen, würde er ihren Irrtum sofort durchschauen, denn: Was gibt es über das Dharma zu fragen? Oder zu sagen?

Die buddhistische Religion ist ursprünglich dazu da, etwas Fundamentales zu verwirklichen. Man kann dabei nichts erfinden und keinen materiellen Nutzen ziehen, aber man kann getrost damit sitzen. Wenn man etwas Profitables für den täglichen Gebrauch erfinden will, muss man etwas anderes studieren als östliche Religion. Aber durch den Buddhismus können wir den wahren Boden unseres Lebens finden. Ohne diesen Boden ist das Leben schal und voller Unsicherheit.

„Dasselbe trifft zu, wenn ich still dasitze und jemand zu mir kommt, um mit mir zu sprechen; ich durchschaue seine Seele durch und durch.“ Wenn Lin-chi still dasitzt, gibt es, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, nichts in seinem Gemüt, keine Gedanken oder Gefühle, die seine Sicht trüben. Im Gewahrsein der Meditation vereinigt er in sich alle Aspekte der Erleuchtung – Buddha, Mensch und Deva (geistiges Wesen) – und alle Aspekte der Wirklichkeit – Nicht-Sein, Sein und Da-Sein. So könnte es bei uns allen sein. Die Schüler, die ihn aufsuchen, möchten seinen geistigen Körper sehen, aber Lin-chi selbst sieht ihr ganzes Wesen: Körper, Geist und persönliche Befindlichkeit in einem. Er durchschaut sie alle ohne eines Wortes zu bedürfen.

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Er erkennt den geistigen Zustand seines Gegenübers sofort. Er sieht, welcher Aspekt der Erkenntnis im Vordergrund steht, was sich im Hintergrund verbirgt und was noch im Dunkeln liegt. Er unterscheidet nicht zwischen materiell und geistig, weltlich und erhaben – all diese Kategorien gehören zur Aussenwelt. Für ihn gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Manjushri und Samantabhadra und seinen Schülern. Wenn Leute zu ihm kamen und Fragen über das Dharma stellten oder ihr Verstehen zeigen wollten, brüllte er bloss „HAAA“. Es war, als ob ein kleiner Ameisenhügel von Blitz und Donner zerstört würde. Das war seine wortlose Antwort.

„Ich sehe durch alles hindurch und habe nicht den geringsten Zweifel.“ Normalerweise kontrollieren die Menschen ihre Gedanken nicht; sie werden stattdessen von ihren Gedanken kontrolliert. Das Mittel, mit dem wir unseren Überlebenskampf führen, ist das Denken, in dieser Hinsicht unterscheiden wir uns von Pflanzen und Tieren. Aber wenn wir dies nicht zu nutzen wissen und im unerleuchteten Zustand bleiben, sind wir den Tieren sehr ähnlich. Die Weisheit in Form von Gedanken erzeugt ein höheres Verstehen, das für das Überleben der Kreaturen in der Welt von grosser Bedeutung ist.

Deshalb ist es wichtig, dass man sich bemüht, bis zum höchsten Punkt des Verstehens zu gelangen und dort die Wirklichkeit mit Leib und Seele erfasst. Lin-chi hat dies nicht in Worte gefasst, aber er fasste es in einen scharfen Ausdruck – “HAAA“. Wenn ihr denkt, es handle sich bloss um einen Schrei, wäre dieser bedeutungslos. Es war sein Ausdruck der höchsten Erkenntnis, die ein Mensch erlangen kann.

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