Die grosse Illusion

Bruchstücke eines Gesprächs zwischen ♪ und ♫ – “Die grosse Illusion

Gott scheint wieder im Krieg zu sein.

♫ Wie meinst du das?

Du musst dir bloss die Nachrichten anhören: Die Christen, Juden, Muslime, alle gehen einander an die Gurgel, alle in Namen des wahrhaftigen Gottes. Sie bekriegen sich nicht nur gegenseitig, sie kämpfen auch unter sich.

Hmmm.

Das ist alles, was du dazu sagen kannst, „hmmm“. Ich dachte, Gott sollte vollkommen gut, vollkommen wissend, vollkommen weise, vollkommen dieses und vollkommen jenes.

Nur wenn er auf deiner Seite ist. Der Gott des Feindes ist falsch.

Und noch etwas: Warum ist es ein „er“ und keine „sie“? Ich wette, die Welt wäre besser, wenn Gott eine „sie“ und nicht ein „er“ wäre.

Meinst du? Es wäre wohl dasselbe, nur anders.

Wahrscheinlich hast du recht, wenn man die Menschheit betrachtet. Was ist bloss passiert?

Es war einmal vor langer Zeit, da befanden sich eine Frau und der Teufel zusammen auf einem Spaziergang. Vor ihnen sahen sie einen Mann denselben Weg entlang gehen. Der Mann bückte sich und hob etwas vom Weg auf. Er betrachtete es und steckte es in seine Tasche. Die Begleiterin des Teufels wandte sich dem Teufel zu und fragte: „Was hat er aufgehoben?“ „Ein Stück Wahrheit“, antwortete der Teufel. Darauf sagte die Frau: „Das ist aber nicht gut für dich. Das macht deine Arbeit nur schwieriger.“ „Oh nein, ganz im Gegenteil“, sagte der Teufel. „Ich werde ihm helfen, dieses bisschen Wahrheit zu organisieren.“

Der Buddha hatte seinen Nagarjuna und Christus hatte seinen Paulus, zum Beispiel.

Ja, und wir haben unsere Priester und Patriarchen.

Und vergiss die Politiker nicht, einige von ihnen sagen, sie sprechen direkt mit Gott.

Weisst du, dass die Götter miteinander sprechen können? Die griechischen Götter hatten immer Konversationen. Sie kamen auch nicht sehr gut aus miteinander.

Nein, aber sie waren organisiert.

Jemand findet ein bisschen Wahrheit, verkündet diese seinen Freunden und Freundinnen. Diese organisieren eine Gruppe. Dann verlässt ihr „Lehrer“ diese Welt auf die eine oder andere Weise, wie wir alle es müssen. Die Gruppe wächst und bekommt als Nicht-Gewinn-orientierte-Organisation Steuererlass; schliesslich erkennen die Politiker ihr Wählerpotential und unterstützen sie. Die Priester ihrerseits unterstützen die ihnen wohlgesinnten Politiker und alle sind glücklich. Die Politiker werden reich und mächtig und die Kirche wird reich und mächtig. Kapitalismus mit einer transzendentalen Note. Das Fussvolk ist zufrieden. Jemand sorgt für sein materielles Leben und jemand sorgt für sein Leben danach. Eine Hand wäscht die andere.

Aber was ist mit der Botschaft, die Buddha und Christus der Welt hinterlassen haben? Ist sie nichts wert? Ist sie nicht der Weg zur Bruder- und Schwesterschaft von allen Menschen?

Ja, aber nur wenn du nicht daran glaubst. Denn sobald man an etwas glaubt, denkt man nicht mehr über dieses etwas nach. Man bleibt in den Worten darüber gefangen, in der Philosophie, im Ritual. Die Botschaft von Buddha und Christus entsprang ihrer eigenen Erfahrung. Die Priesterschaft, die sich im Gefolge davon etabliert hat, erzählt uns aber, wir könnten diese Erfahrung nicht haben. Und dass sie, die Priester, die einzigen seien, welche die Kraft dieser Erfahrung, die sie selber nie hatten, zu unserem Wohl benutzen können. Sie sagen uns dies seit tausend Jahren und es hat bis jetzt nicht funktioniert. Trotzdem sagen sie es weiter und wir glauben es weiter. Wer ist hier der Dumme?

Wer war es, der sagte, Religion sei das Opium fürs Volk?

Wer es auch gesagt hat, hat vermutlich versucht, ein existierendes mit seinem eigenen Opiat zu ersetzten. Die Drogenkriege gehen weiter.

„Ich denke, ich sei minderwertig, also bin ich “?

Genau.

Denkst du, ich könnte mit Gott sprechen?

Worüber?

Über das Schlammassel, in das er uns gebracht hat.

Gott wird durch dreiundreissig etablierte Religionen in dieser Welt repräsentiert. Mit welchem willst du reden?

Ich sollte wohl mit dem reden, den ich am besten kenne.

Es gibt eine Geschichte, die lautet: „Gott schuf den Menschen nach seinem eigenen Bildnis und seither erweist ihm der Mensch dieselbe Gunst.“

Dann ist Gott also eine Idee?

Denke darüber nach. Christus hat es getan, der Buddha hat es getan. Wenn man die Botschaft dieser Lehrer lebt und nicht einfach nur glaubt, dann braucht man keinen Gott. Es ist nicht im Wort. Es ist das, was das Wort meint. Es existiert bevor das Wort existiert, und wo das Wort existiert, ist Es nicht.

Wenn man jemandem seinen Gott wegnimmt, hinterlässt dies ein grosses Loch.

Nur wenn man darüber nachdenkt.

Die grosse Illusion?

Die Grosse Illusion. 🙂

Wie lebe ich die Botschaft, statt sie bloss zu glauben?


In der Gegenwart des gegenwärtigen Augenblicks.

♪ Im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein bedeutet, jeden Augenblick gegenwärtig zu sein. Keine leichte Aufgabe!

Nur wenn du darüber nachdenkst. Sobald du darüber nachdenkst, überdeckt der Gedanke den Augenblick.

Man kann sich nicht in den gegenwärtigen Augenblick hinein denken, aber man kann sich daraus heraus denken und tut es auch.

Ganz gegenwärtig zu sein, d.h. in der Gegenwart zu sein, heisst eine Blume zum ersten Mal zu sehen, jedes Mal.

Jedes Mal?

Die Gedanken transzendieren.

Nicht eliminieren?

Das ist nicht möglich.

Warum nicht?

Wie willst du Gedanken eliminieren?

Mit anderen Gedanken?

Ja.

Ich jage wieder meinem eigenen Schwanz nach.

Das Ich in dir ist nicht vorhanden im gegenwärtigen Augenblick. Denn das Ich in dir existiert nur als Gedanke. Im Moment des „Sehens“ und „Riechens“ der Blume gibt es keinen Gedanken; in dieser Millisekunde hast du keine Worte, kein vergleichendes Bild für die sich entfaltende Erfahrung. Das Ich ist transzendiert, wenn auch nur zu einem gewissen Grad und nur für einen kurzen Augenblick.

Und dann bilde ich aus diesem Erlebnis des winzigen Augenblickes einen Gedanken, der auf der Erinnerung dieses winzigen Augenblicks beruht. Aber wie kommt der erste Eindruck des winzigen Augenblicks ins Gedächtnis?

Das Gehirn registriert die Sinneseindrücke andauerend. Im gegenwärtigen winzigen Augenblick registriert es, was es „sieht“, ohne durch Gedanken gehindert zu werden. Dann wiederholt man das Erlebnis aus dem Gedächtnis und denkt, es sei eine religiöse Erfahrung oder was auch immer. Vielleicht fügt man der Erinnerung sogar noch die eigenen Lieblingsgötter oder Lieblingsteufel bei.

Nach dem tatsächlichen Geschehen?

Nach dem tatsächlichen Geschehen.

Aber wie kam ich in die Lage, dass es möglich war, die Erfahrung eines winzigen Augenblicks zu machen?

Im Fall der Blume hast du keine Worte gehabt, die einen Gedanken aus der Erinnerung ausgelöst haben. In diesem Fall hast du die Blume gesehen. Im nächsten Augenblick ist dein Gehirn wieder damit beschäftigt, aus der Erinnerung frühere Bilder von Blumen hervor zu holen, zu vergleichen, zu werten und Entscheidungen zu treffen. Was ist jetzt mit dem Augenblick?

Da haben wir ein Problem, nicht wahr? Wie kann man einen winzigen Augenblick mit einer Blume erleben, für die man bereits einen Namen hat? Sollte man alles, was man über die Blume weiss, vergessen, sobald man sie sieht?

Nun, wenn du dies versuchst, wirst du die Blume nicht „sehen“, weil du mit Gedanken beschäftigt bist, welche alle anderen Gedanken über die Blume zu verscheuchen versuchen: „Nein, das ist keine Rose. Nein, sie bringt mich nicht zum Niesen. Nein sie ist nicht schön.“ Welch Schlammassel!

Dann sollte ich es vielleicht einfach nur eine Blume nennen und fertig. Dann sehe ich sie als das, was sie ist.

Benenne sie überhaupt nicht. Schaue sie einfach an. Das ist Präsenz. Das ist Gewahrsein dessen, was ist. Sobald ein Namen angehängt wird, „sieht“ man nur noch das, was das Wort aus der Erinnerung hervorbringt.

Und morgen fragen mich meine Freunde, was es ist (das Blumen-Ding) und ich sage, ich wisse es nicht. Richtig?

Falsch. Du sagst ihnen, es sei eine Blume. Das heisst „in der Welt sein“ oder „Leere ist Form“. Was du weglässt, sind deine Meinungen, Urteile, Vorlieben, Abneigungen, Theorien, Spekulationen und Fantasien über die Blume aus deinem Erinnerungsallerlei. Das heisst „nicht von der Welt sein.“ oder „Form ist Leere“.

Was ist falsch daran, wenn ich jemandem sage, dass Rosen mich zum Niesen bringen?

Nichts. Aber wenn du dann auf Grund der Tatsache, die für dich heisst „Rosen bringen mich zum Niesen“ jedesmal, wenn du eine Rose siehst, missmutig wirst oder ärgerlich, dann begegnest du dem gegenwärtigen Augenblick mit der Vergangenheit; die Vergangenheit als Erinnerung in Gedanken ausgedrückt.

Dein Missmut oder Ärger „verschluckt“ den gegenwärtigen Augenblick. Er macht daraus, was er braucht, um stärker und noch automatischer zu werden. So reagiert oder handelt man immer wieder gleich. Stimmts? Die Tat, die wiederholt wird, kann nur von einem Ort kommen, nämlich aus dem Gedächtnis.

Was man normalerweise als agieren bzw. handeln bezeichnet, ist also in Wirklichkeit ein Re-agieren, ein Wiederholen der Vergangenheit. Nicht re-agieren, die Vergangenheit nicht zu wiederholen, ist das, was im Buddhismus als Nicht-Tun oder richtiges Tun gilt. Es ist die Abwesenheit von Reaktionen aus der Erinnerung. Im gegenwärtigen Augenblick nicht die Vergangenheit zu wiederholen, ist richtiges Tun.

Re-aktionen stammen aus dem Zustand, in dem man der eigenen Gedanken nicht gewahr ist. Die Gedanken produzieren dabei automatisch eine Handlung, die auf der Vergangenheit basiert. Nehmen wir zum Beispiel das Reden mit vollem Mund. Der gegenwärtige Augenblick – schmecken, riechen, sehen, fühlen der dünnen Salamischeibe im Mund – wird von den Worten gegessen, die aus dem Mund heraus kommen. Worte, die auf Gedanken beruhen. Bei jeder Kaubewegung geht das Vergleichen, Schlüsse ziehen, Beurteilen und all das Phantasieren über Salami weiter. Und dabei geht der gegenwärtige Augenblick verloren, der nichts zu tun hat mit deiner lauten Reminiszenz wie der Vater deiner ersten Liebe den besten Salami der Welt produziert hat und „Oh. was macht sie wohl jetzt?“

Ich bin damit beschäftigt, das Salami-Essen mit den Erinnerungen zu manipulieren, die ich von früherem Salami-Essen habe. Ich vergleiche es mit anderen Salamis, anderen Orten, anderen Zeiten. Ich entscheide, ob es besser oder schlechter ist auf Grund meiner Erinnerung ect. ect. Wie wäre es wohl, wenn ich dies nicht täte?

Du könntest vielleicht entdecken, woher deine gelegentlichen Anfälle von Verdaungsstörungen kommen.

Ohne alle diese Vorstellungen von Salami könnte ich den Salami kosten, wie er ist und spüren, wie er auf meine Verdauung wirkt.

Ohne von Salami-Erinnerungen beeinflusst zu werden, würdest du gewahr sein, was im gegenwärtigen Augenblick ist und nicht in Gedankenspiele wie „Was macht sie wohl jetzt“ verwickelt sein.

In diesem gegenwärtigen Moment sein, heisst, dieser Gedankenspiele gewahr zu sein?

Man kann nicht im gegenwärtigen Augenblick präsent sein und gleichzeitig Gedankenspiele beobachten. Das eine schliesst das andere aus. Im gegenwärtigen Augenblick gibt es kein Gedankenspiel.

♪  Wenn ich mir des Gedankenspiels bewusst bin, weiss ich also, dass ich nicht im gegenwärtigen Augenblick bin.

Bravo!

♪  Kennst du die Verse über das Vertrauen in den Geist vom Dritten Patriarchen?

Es ist, wie wenn man in einen klaren Teich schaut.

Sollen wir Bemerkungen einfügen? Würde dies die LeserInnen ablenken?

Es könnte sein.

Diskret?

Diskret!

Winter 2005

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