Der natürliche Geist

Die drei Körper

Der natürliche Geist – Im nächsten Abschnitt benutzt Lin-chi die buddhistische Theorie des dreieinigen Körpers von Buddha (Skr. Trikāya), um das Wesen des menschlichen Geistes zu erklären. Kayabedeutet auf Sanskrit „Körper“. Die sog. drei Körper Buddhas heissen Dharmakāya, Sambhogakāya, Nirmānakāya.

Lin-chi betrachtet diese Theorie jedoch kritisch vom Zen-Standpunkt aus. Er betont, dass es sich nicht um Körper handelt, die irgendwo weit weg im Jenseits existieren. Es sind drei Aspekte unseres eigenen fundamentalen Bewusstseins. Es steckt keine Metaphysik dahinter; man kann dies ohne weiteres beweisen. Der dreieinige Körper Buddhas sind wir selbst. Alle Menschen haben die dreieinige Buddha-Natur, ob sie es wissen oder nicht.

Dharmakāya ist der namenlose, formlose Urgrund aller Existenz. Es ist die an keine Form gebundene Intelligenz des Universums. Ihr entspringt unsere intuitive Sicht der Wirklichkeit. Die Zunge schmeckt und die Augen sehen, aber sie sagen nicht: „Ich möchte schmecken“ oder „ich sehe“. Wegen dieser Abwesenheit eines Subjekts und einer Form geben wir diesem Aspekt des Geistes die Attribute „leer“ und „formlos“.

Der Sambhogakāya symbolisiert die durch keinerlei Gedanken getrübte Wahrnehmung der inneren und äusseren Phänomene des Lebens. Es ist das allgemeine, allen Wesen gemeinsame Bewusstsein. Es ist die Wurzel des nicht-persönlichen, reinen Bewusstseins des eigenen Daseins. Dieses Bewusstsein hält an nichts fest. Es ruht in sich selbst und beweist sich selbst im Kontakt mit allen Dingen. Es gehört somit zur Welt der reinen Formen.

°°°

Nirmānakāya bedeutet „Körper der Verwandlung“. Es ist das Bewusstsein, das sich allen Situationen anpasst: Im Sommer trägt man Baumwolle, im Winter Wolle. Auch wenn dieses Bewusstsein in der Welt des Verlangens existiert, hat es nichts zu tun mit dem menschlichen Werten und dem wählerischen Denken.

Es manifestiert die intuitive, selbstlose Anpassungsfähigkeit der Natur. Wenn man sich auf keine bestimmte Meinung über die Dinge festlegt, kann man sich, so wie man ist, in allen Gegebenheiten frei bewegen. Diese Freiheit ist der Nirmānakāya. Wer sein eigenes Wesen erkennt, weiss, dass Dharmakāya, Sambhogakāya und Nirmānakāya untrennbar zusammenwirken.

„Die Schriftgelehrten sagen, der dreieinige Körper sei das Fundament und die Essenz des Daseins. Aber in meinen Augen ist dem nicht so. Der dreieinige Körper ist nur ein Begriff, und die drei Körper, auf denen dieser Begriff gründet, sind nichts als gedankliche Konstrukte. Ein alter Meister sagte: ‚Die Buddha-Körper sind Sinnbilder für das universale Bewusstsein. Die Buddha-Länder sind Sinnbilder für die verschiedenen Wirkungsbereiche des universalen Bewusstseins. Daraus können wir deutlich sehen, dass die Buddha-Körper und die Buddha-Länder nur Gedankengebilde sind, vom Licht unseres Geistes erzeugt.“

°°°

Die „Schriftgelehrten“ auf die Lin-chi sich hier bezieht, waren die Experten, die sich auf die Interpretation der buddhistischen Texte spezialisiert hatten. Sie betrachteten den dreieinigen Körper als das fundamentale Prinzip von Buddhas Lehre. Man kann die Wirklichkeit aber nicht mit Ausdrücken wie „Dharmakāya“, „Sambhogakāya“, „Nirmānakāya“ oder „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ einfangen. Die Wirklichkeit ist kein Begriff. Wir aber bedecken sie mit Begriffen wie mit abgenutzten Gewändern. Wir probieren ein Wort aus, dann ein anderes und noch ein anderes und bald haben wir drei Garnituren an Gewändern, die unserer Vorstellung spiegeln, nicht aber die Wirklichkeit.

Alle diese „Körper“ und „Länder“ sind also Schatten der einen universalen Natur, vom Licht unseres eigenen Geistes erzeugt. Es ist wie bei einem Film, wobei unser Gehirn der Projektor ist, der den Film abwickelt. Der „dreieinige Körper Buddhas“ erscheint auf der Leinwand des Geistes und man hält ihn für eine Gottheit und betet ihn an. Kein Wunder, dass keine Antwort kommt.

Das fundamentale Bewusstsein

„Liebe Brüder, es ist äusserst wichtig, dass ihr das Eine erkennt, das dieses Licht steuert! Es ist die wahrhaftige Quelle aller Buddhas und jeder Ort, an dem ihr euch befindet, es ist euer Zuhause, nach dem ihr euch sehnt.“

Derjenige, der dieses fundamentale Bewusstsein und dessen Wahrnehmungen steuert, ist der „Meister“. Es ist nicht der physische Körper, auch nicht die Gedanken oder Gefühle, die in unserem Gemüt umherschwirren. Der „Meister“ ist immer präsent. Sein leiblicher Körper, Nirmānakāya, wandelt sich immerzu. Seine Seele ist das einheitliche Bewusstsein, Sambhogakāya, und seine Quelle ist der Urgrund, Dharmakāya.

Der „Meister“ ist der Buddha eures eigenen Geistes. Eines Tages werdet ihr ihn in seinem Schrein entdecken. Dieser Schrein wird von euren eigenen Füssen getragen und befindet sich exakt dort, wo ihr steht. Dann werdet ihr wissen, dass Lin-chi die Wahrheit sagte.

Euer Körper, zusammengesetzt aus den vier grossen Elementen, kann die Weisheitslehre (Dharma) weder hören noch weitergeben. Auch euer Magen, eure Milz, eure Leber, eure Galle oder euer Herz kann es nicht. Die Weisheitslehre kann auch nicht vom leeren Himmel verstanden oder erklärt werden. Was ist es dann, das die Lehre hören und verstehen kann? Es ist das, was keine Form hat und in jedem von euch, so wie ihr jetzt vor mir sitzt und meinen Worten zuhört, hell erstrahlt. Wenn ihr dies klar erfasst, dann habt ihr echtes Verstehen, das sich in nichts von der Sicht Buddhas unterscheidet. ES existiert immerwährend, überall und jederzeit. Alles, was euch vor Augen kommt, ist ES.

°°°

Aber wenn Emotionen aufkommen, wird die wahre Sicht blockiert, und wenn Zweifel das Denken beherrschen, wird das wahre Wesen überdeckt. In der Folge wandert man durch die drei Welten und erleidet alle möglichen seelischen Schmerzen. Aus meiner Sicht gibt es nichts, das nicht von äusserst tiefgründiger Bedeutung ist und niemand, der nicht vollkommen frei ist.“

Die vier grossen Elemente sind Erde, Wasser, Feuer und Luft. In der buddhistischen Theorie wird manchmal noch ein fünftes und sechstes Element zugefügt: Ākāsha und Bewusstsein. Ākāsha ist das Element der Leere, manchmal verstanden als „Raum“, manchmal als „Äther“. Es entspricht dem, was Lin-chis den „leeren Himmel“ nennt. Bewusstsein ist das Element des Gewahrsein.

Lin-chi sagt, dass sein Dharma-Vortrag von keinem dieser Elemente gehört, verstanden und gelehrt werden kann. Das, was hört, versteht und die Weisheitslehre predigt, hat keinen Namen. Aber lasst euch von Lin-chi nicht zum Narren halten und denkt nicht, es handle sich um ein tatsächliches Wesen von leuchtender Gestalt. Das Eine – namenlos und formlos – das “immerwährend existiert, überall und jederzeit“, ist präsent in euch, so wie ihr jetzt gerade seid. Und „Alles, was euch vor Augen kommt ist ES.“ Berge! Flüsse! Sterne! Sonne! Blumen! Vögel! Insekten! Alle manifestieren das ewige Leben. Welch wundervolle Idee.

„Aber wenn Emotionen aufkommen, wird die wahre Sicht blockiert, und wenn Zweifel das Denken beherrschen, wird das wahre Wesen nicht erfasst.“ Der Geist, der das wahre Fundament des echten Verstehens ist, ist klar und rein wie der leere Himmel oder der leere Raum. Die Sinneseindrücke erzeugen winzige Kerne einer Erregung. So wie sich am Himmel um kleinste Staubkörnchen Wolken bilden, so formen sich im Geist um diese kleinen Kerne im Nu ganze Gedankengebilde wie riesige Wolken. Man sieht die Tatsachen des Seins nicht mehr.

°°°

Der Kram, den wir in unserem Geist mittragen, besteht aus quasi „eingefrorenen“ Resten von Sinneseindrücken.[ Aber man meint, diese Gebilde seinen identisch mit dem Geist. Dem ist nicht so. Geistesinhalt und Geist sind nicht dasselbe. Der Geist ist wie die Leinwand und der Geistesinhalt wie die von den Sinnen ausgelöste Projektion auf dieser Leinwand.

Wenn man die Projektionen subjektiv wertet und verallgemeinert, verleiht man ihnen eine scheinbare Wirklichkeit, aber wenn man sie ohne Vorurteil und ohne Täuschung einfach wahrnimmt, sieht man sie als das, was sie sind. Es gibt einen chinesischen Weisheitsspruch, der besagt: Sobald man sich mit einer äusseren Form identifiziert, verliert man seine eigene Form und verlässt den wesentlichen Körper der Wirklichkeit.

„In der Folge wandert man durch die drei Welten und erleidet alle möglichen seelischen Schmerzen.“ Ob als Mensch, Kuh, Hund oder Katze: Freud und Leid sind stetige Begleiter in diesem unerleuchteten Leben.

„Aus meiner Sicht gibt es nichts, das nicht von äusserst tiefgründiger Bedeutung ist und niemand, der nicht vollkommen frei ist.“ Das ist echte, universale Weisheit!

„Unser geistiges Wesen hat keine Form, es dehnt sich aber in alle Richtungen aus. In den Augen ist es Sehen, in den Ohren Hören, in der Nase Riechen, im Mund Sprechen, in der Hand Greifen, in den Füssen Gehen. Es ist ursprüngliches, reines Licht, das sich in die sechs Sinnesfunktionen aufteilt. Wenn ihr nicht an den Gedanken in eurem Geist festhaltet, seid ihr, wo ihr steht und geht, vollkommen frei.

Wozu sage ich euch all dies? Nur weil ihr nicht aufhören könnt, gedanklich umherzuwandern und nach irgendetwas zu suchen und deshalb in den nutzlosen Methoden der Alten gefangen seid.“

°°°

Es ist sehr schwierig, die Gestalt der nackten Seele zu sehen. Wir bekleiden sie so, wie wir den Körper in mannigfaltige Gewänder kleiden – Erziehung, Errungenschaften, Leistungen, Meinungen, Hypothesen. Wir erkennen zwar die Form unseres nackten physischen Körpers unter den Kleidern, die wir am Körper tragen, aber die Gestalt unsrer nackten Seele sehen wir kaum. Wir erkennen hässliche Proportionen eines nackten Körpers, nicht aber die unharmonischen Proportionen eines verzerrten menschlichen Geistes. Ebenso hindern uns unsere Konzepte daran, die wunderbare, vollkommen harmonische Gestalt des Buddha zu sehen.

Die Wirklichkeit ist nicht geeignet, uns immer neue Kleider für die Seele zu geben, im Gegenteil. Die wahrhaftige Wirklichkeit zwingt uns, all die schäbigen Kleider abzulegen. Sie offenbart die ursprüngliche Gestalt der Seele, die wir von der geistigen Mutter der Weisheit erhalten haben und nicht von Maya, der Mutter aller Täuschungen.

Wenn man erkennt, dass der Geist von der Natur einen saumlosen Pelzmantel geschenkt bekommen hat wie meine Katze Noodle, dann braucht man keine anderen geistigen Kleider mehr. D.h. wenn man erkennt, wer man ist und wo man im Universum steht und welche Gestalt die Seele hat, dann weiss man, was zu tun ist und ist sofort frei. Man wählt seine eigenen Kleider. Im Sommer zieht man etwas Leichtes an und im Winter etwas Wärmendes. Vielleicht hat man jedoch vergessen, wie man sich entkleidet und befreit und läuft mitten im Sommer in den Winterkleidern umher.

°°°

Lin-chi sagt also, die Seele sei ohne Form, aber breite sich in alle Richtungen aus. Wir betrachten die Sonne, den Mond und alles andere mit unseren Sinnen als Objekte ausserhalb unserer selbst. Aber wenn wir intuitiv, gefühlsmässig die Sonne und den Mond in unser eigenes Sein einschliessen, dann strahlt das Licht von der Seele aus, die wir mit allen Lebewesen teilen. Es strahlt in alle Richtungen. Auf diese Weise durchleuchtet das eine essenzielle Licht all die verschiedenen Phänomene des Universums.

„Wenn ihr nicht an den Gedanken in eurem Geist festhaltet, seid ihr, wo ihr steht und geht, vollkommen frei.“ Es ist leicht über das Aufgeben der Gedankenaktivitäten zu sprechen, aber nicht leicht, es zu tun. Unsere geistige Beschaffenheit ist die Frucht der menschlichen Geschichte. Aber wenn man die Buddhanatur realisiert, dann ist man befreit von diesen Früchten. Dies kann aber nicht mit Hilfe der Gedanken vollbracht werden. Man muss restlos alle Worthülsen ablegen und in das leere Zentrum eintreten. Wenn man wirklich im Zentrum ist, dann ist dieser gegenwärtige Körper der Körper Buddhas.

Wenn man nicht weiss, wie das geht, denkt man vielleicht, man müsse alle Gedanken und Impulse im eigenen Geist unterdrücken. Aber dieses Vorgehen ist zu langsam! Die Buddhanatur ist von vornherein gegeben, es ist nicht nötig, ihre Kreaturen abzutöten. Es ist auch nicht nötig, in einen tiefen Schlaf zu verfallen und sich vom Körper zu trennen; man kann sich nicht vom universalen Körper trennen. Wenn die Zeit reif ist, wird der Geist seine Blütenblätter öffnen und die echte, weisse Lotusblume freilegen.(Die geöffnete weisse Lotusblume ist ein buddhistisches Symbol für den ungetrübten Geist. Anm. d. Übers.) Damit dies geschehen kann, muss man sich allerdings vom geistigen Verlangen und von allen Ideen über Form und Nicht-Form radikal trennen.

°°°

Warum empfinden wir dies als ein derart tiefes Mysterium? Weil es mit dem Verstand, den wir von unseren Eltern bekommen haben, nicht zu erfassen ist und weil uns niemand dabei helfen kann. Man muss dies ganz alleine tun. Man kann nur durch das eigene Bemühen erkennen, dass die geformte Welt unserer täglichen Erfahrung und die formlose Wirklichkeit tatsächlich ein und dasselbe ist. Das ist das Mysterium.

„Wozu sage ich euch all dies? Nur weil ihr nicht aufhören könnt, gedanklich umherzuwandern und nach irgendetwas zu suchen, und dementsprechend in den nutzlosen Methoden der Alten gefangen seid.“ Die alten Meister kannten viele Meditationsformen, mit denen sie ihren Anhängern den Buddhismus nahebringen wollten. Und so meinen heutzutage viele Leute, Meditation und Achtsamkeit seien der Kern des Buddhismus, aber das stimmt nicht. Das Mittel, mit dem man Buddha sucht, ist nicht Buddha.

In der Meditation löst man sich von der Peripherie der Umgebung und realisiert den Buddha in sich selbst. Der Meister ist präsent. Aber es braucht einen echten Einsatz, man muss an die Türe des eigenen Herzens klopfen und um die Begegnung mit ihm bitten. Die Antwort kommt von innen, nicht von aussen.

Wenn der Meister sich zeigt, hört auf zu klopfen. Wenn man nachts in ein Haus eingelassen werden möchte, nützt es nichts, mit der Faust an die Haustüre zu klopfen. Niemand hört einen. Besser man wirft Steinchen gegen ein Fenster – bing! bing! bing! – bis jemand antwortet. Meditation und Konzentration sind Steinchen, um den Meister zu rufen; es kommt aber eine Zeit, in der man sie nicht mehr braucht. Das Tempeltor ist nicht der Meister, verwechselt die beiden nicht miteinander.

°°°

Ich sage jetzt besser nicht mehr dazu, denn wenn ich mehr erkläre, dann klammert ihr euch an meine Worte und vergesst den Buddha in euch selbst. Gebt alle Mittel, Werkzeuge, Methoden auf, und wenn ihr bei euch selbst angekommen seid : „Hm, ich verstehe“ …… Nur so lässt ES sich finden.

„Liebe Brüder, wenn ihr mit der Sicht dieses Bergmönches übereinstimmt, (Rinzai benutzte häufig die Redewendung „Bergmönch“ an Stelle von „ich“) dann schneidet die Köpfe vom Sambhogakāya- und Nirmānakāya-Buddha ab. Ein Bodhisattva, der sich mit der sogenannten höchsten Stufe der Erleuchtung zufrieden gibt, ist nur ein geringer Mitläufer. Ein Bodhisattva, der dasselbe erreicht hat, wie der Buddha, ist ein in Ketten gelegter Gefangener. Ein Arhat und ein Pratyekabuddha sind beide nichts als stinkendes Abwasser. Bodhi und Nirvāna sind Pflöcke für Maultiere und Esel. Warum? Weil ihr, liebe Brüder, wegen eurer Unfähigkeit, die vollkommene Auflösung der zahllosen Kalpas zu vollziehen, derart gefangen seid.“

Der Ausdruck „die Köpfe abschneiden“ bedeutet zu erkennen, dass man selbst Buddha ist. Im ganzen Universum gibt es niemand anders als diese eine Buddha-Natur, die alles beseelt. Jeder Mensch ist ein Zweig an diesem Weisheitsbaum. Jedes Individuum erfüllt seine eigene Funktion, aber keines ist getrennt von allen anderen. Wer die universale Seele erfasst, erkennt, dass auch sein Körper universal ist.

Im Buddhismus werden viele Stufen der Erleuchtung unterschieden. Der Titel Arhat galt ursprünglich für diejenigen Anhänger von Buddha, welche die Ursachen des Leidens durchschaut und das Leiden dadurch aufgelöst hatten. Es ist ein Zustand, in dem jegliches Verlangen aufgegeben worden ist, Vorstellungen von „Reinheit“ und „Tod“ jedoch noch immer vorhanden sind. Dabei herrscht die Idee, dass die Lebenserscheinungen vollkommen illusorisch sind. Diese Menschen „verstecken“ sich gewissermassen in der Leere. Das ist aber keine vollständige Befreiung. Im späteren Volksbuddhismus wurden alle Mönche Arhat genannt.

°°°

Ein Bodhisattva unterscheidet sich vom Arhat insofern, als er alle Lebenserscheinungen als Ausdruck der Wirklichkeit akzeptiert und Befreiung in und nicht ausserhalb der Welt findet.

Ein Pratyekabuddha ist jemand, der aus sich selbst heraus, ganz ohne fremde Hilfe, alle Stadien des Erleuchtungswegs durchlaufen hat. Aber sein Verstehen ist rein intuitiv und kann nicht kommuniziert oder an andere weitergegeben werden.

In den Augen von Lin-chi sind alle Menschen, die diese diversen Stadien und Zustände für wirklich halten, noch immer in den Wolken der Spekulationen gefangen. Denn solche Stadien existieren nur als Hypothesen, sie sind nicht die Wirklichkeit. Die Ideen von Weisheit (Bodhi) und Nirvāna sieht Lin-chi als abstrakte Pflöcke, die für die unwissenden Esel in den Boden geschlagen wurden. Solange man an ihnen festgebunden ist, kann man sich nicht frei bewegen.

Wer von sich denkt, er sei ein Bodhisattva oder ein Buddha oder sonst jemand, lebt nicht in seinem eigenen Licht; er ist bloss ein Mitläufer und steht nicht auf den eigenen Füssen. Wer wahrhaftig erleuchtet ist, ist nur er selbst. Er denkt nicht, seine Person sei Buddha oder dasselbe wie Buddha oder ähnlich wie Buddha. Lin-chi benutzt scharfe Worte, um diejenigen zu kritisieren, die sich mit dem hypothetischen Buddhismus zufrieden geben. In seiner Sicht löscht vollkommenes Erwachen sämtliche Denkkategorien aus. Auch ihr sollt dies erfahren, andernfalls setzt sich das ganze theoretische System des Buddhismus in eurem Gehirn fest und ihr werdet niemals frei.

„Warum? Weil ihr, liebe Brüder, wegen eurer Unfähigkeit, die vollkommene Auflösung der zahllosen Kalpas zu vollziehen, derart gefangen seid.“ Zahllose Kalpas“ bedeutet „unendliche Zeit“. Es gilt, restlos alle Ideen aus der Vergangenheit aufzulösen. In dieser vollendeten Auflösung existiert selbst „Einheit“ nicht mehr. Solange die Auflösung nicht vollzogen ist, gibt es Schranken.

°°°

Die Auflösung kann in einem einzigen Augenblick geschehen, nämlich dann, wenn man den Gedankenfaden abschneidet; in diesem Augenblick ist man sofort frei. Die Verbindung zu den Täuschungen und Vorstellungen ist durchtrennt. Das ist die Befreiung von Leiden und Dunkelheit und der Eintritt in das Meer von Nirvāna. Wenn ihr einen Gedanken abschneiden könnt, könnt ihr alle abschneiden, und zwar mit dem Schwert von Manjushri, der Kraft der ursprünglichen Weisheit.

Schneidet alles menschliche Karma ab – „ich hasse, ich fühle mich gut, ich möchte“ und so weiter und so fort. Das Schwert von Manjushri ist uns allen gegeben, damit können wir sämtliche bewussten und unbewussten Verstrickungen der menschlichen Welt durchtrennen. Einmal im Leben solltet ihr das ganze Gestrüpp im Kopf wegräumen und den wahren Boden eures Geistes sehen.

Es gibt ein Kōan, das deutlich macht, wie sich der wahre Boden zeigt: „In der Mitte eines Turmes hängt eine Kristallglocke, welche selbst dann ununterbrochen summt, wenn kein einziger Luftzug sie in Schwingung versetzt. Wie? Warum?“ Wenn man dieses Summen hört, sieht man den Urgrund der Seele. Wenn man zu diesem echten Nichts durchdringt, ist man wissend. Andernfalls ist man bloss ein Pilz auf trockenen Blättern.

„Geht einfach euren täglichen Verrichtungen nach in Übereinstimmung mit den Umständen und das Karma der Vergangenheit wird von selbst abbezahlt. Tragt die Kleider, die ihr tragen wollt. Geht und sitzt nach eigenem Willen. Denkt keinen Augenblick daran, die Errungenschaften Buddhas zu erlangen. Warum nicht? Ein Mann der alten Zeit sagte: ‚Wenn du dieses oder jenes tust, um den Buddha zu finden, wird der Buddha zu einer Ursache von Geburt und Tod.‘ ]

Am Mittag mittagessen, am Abend abendessen, ein Glas Wein trinken, und wenn einem kalt ist, ein heisses Bad nehmen. Damit soll Karma abbezahlt werden? Ja!

°°°

Karma besteht aus den Urteilen und Meinungen, die aus der Vergangenheit resultieren. Wir Menschen leben grösstenteils instinktiv, d.h. wir handeln aufgrund der unbewussten Impulsen von Unwissenheit, Leidenschaften, Abneigung und Zuneigung oder Zorn. Mit echter, innewohnender Weisheit wandeln sich diese Eigenschaften in Tugenden. Eigenwille wandelt sich zu Willenskraft, Zorn zu innerer Sammlung, Unwissenheit zu Weisheit. Nachdem man alles über sich selbst gelernt und erfahren hat, kann man zum echten, nicht-persönlichen Boden des Geistes zurückkehren. Dann erlangt man echtes Nicht-Wissen, welches das Gegenteil von Unwissenheit ist. Vollständiges Nicht-Wissen ist absolute Offenheit und identisch mit Nirvāna. Nirvāna ist Unbekümmertheit im wahren Sinn des Wortes.

Tragt die Kleider, die ihr tragen wollt. Geht und sitzt nach eigenem Willen“. Wir alle sind im Besitz der Buddha-Weisheit, aber da wir ihrer kaum bewusst sind, benutzen wir sie blindlings und machen viele Fehler dabei. Je nachdem, wie wir sie einsetzen, ernten wir Frieden oder Leid. Wenn wir die Weisheitsnatur unseres eigenen Wesen tiefgründig verstehen und ihr folgen, sind wir frei, die Kleider zu tragen und das zu tun, was wir wollen und zwar auf jedem Gebiet des Alltags. Was vorher blinder Instinkt war, ist jetzt erleuchtete Intuition. Wenn dies geschieht, braucht es keinen Buddhismus mehr. Bücher oder eine spezielle Meditationspraxis sind überflüssig.

Der Meister sagte: „Liebe Weggefährten, es ist dringend erforderlich, dass ihr echte Einsicht erlangt, damit ihr frei auf dieser Erde gehen könnt, ohne von einem Haufen Geister irregeführt zu werden. Der wahrhaft edle Mensch ist der, der den Zustand des Nichts-mehr-tun-müssens erreicht hat. Seid einfach natürlich, ohne Künstlichkeit. Aber ihr rennt in der Aussenwelt umher, fragt Nachbarn und Freunde auf der Suche nach jemandem, der euch hilft. Das ist ein Fehler!“

Der natürliche Geist
Der Natürliche Geist
Nach oben scrollen