Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er braucht auch Nahrung für den Geist. Einen Korb voller geistiger Leckerbissen finden Sie in dieser Ausgabe von Dhyāna als Geschenk vom Zentrum für Zen- Buddhismus Zürich. Wir feiern nämlich das zehnte Jahr dieses Zentrum. Das Geschenk geht an alle, die sich schon einmal bei uns an der Zen- oder Yoga-Praxis interessiert gezeigt oder an einem Kurs teilgenommen haben.

Zubereitet wurden die Bissen vom Zen-Meister Shigetsu Sokei-an (1882- 1945) aus den Zutaten der reichhaltigen Vorratskammer der universalen Weisheit. Diese Vorratskammer steht allen Menschen zu Verfügung, es braucht aber einen Schlüssel dazu. Der Schlüssel ist eine geistige Praxis. Eine solche ist gekennzeichnet durch ein gezieltes Studium der fundamentalen Grundlagen und Wahrheiten des menschlichen Daseins und durch achtsames und bewusstes Handeln im Alltag. Im Gegensatz zur Theorie besteht Praxis im der Anwendung bzw. im Tun.

Das Motto “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein” geht auf die christliche Überlieferung zurück. Als Jesus alleine in der Wüste war und meditierte (praktizierte) wurde er von der Macht der Überheblichkeit verlockt, seine Selbstlosigkeit aufzugeben und aus den Steinen der Wüste Brot zu machen. Auf diese Versuchung soll er geantwortet haben : “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.” (Mat. 4.4)

Gott hat viele Namen und er lässt sein Wort aus vielen Mündern kommen. Nicht nur weise Menschen der Vergangenheit und Gegenwart zeugen davon, laut verkünden es auch die Geschöpfe der Natur. Doch wenn wir Menschen nicht zur Besinnung kommen, bleiben wir taub dafür. Als Folge sind wir geistig unterernährt. Dadurch gerät der gesamte Stoffwechsel zwischen Mensch und Umwelt aus dem Lot. Dies ist zwar eine Binsenwahrheit; doch wer will sie hören oder gar beherzigen?

Auch Meister Sokei-an war ein Rufer in der Wüste. Seine Wüste war die Stadt New York. Dort lebte er mit seiner schwarzen Katze Shiko und brachte als erster japanischer Meister die Zen-Praxis nach Amerika. Einige seiner Vorträge wurden nach seinem Tod zu Papier gebracht, damit sie auch kommenden Generationen als Nahrung dienen können. Die hier wiedergegebene Auswahl von Aussagen sind nach Themen geordnet, welche uns alle angehen.

Man kann sie, wie physische Nahrung, Bissen um Bissen zu sich nehmen und kosten. Indem man sie kaut und schluckt, entfaltet sich ihre nährende Kraft.

Der Körper

Der menschliche Körper ist mehr als Fleisch und Knochen, – er ist eine Frucht des Bewusstseins, ein Träger der universalen Schöpfungskraft. Für das Wohlbefinden des einzelnen Menschen als auch der Gesellschaft ist es wichtig, das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zu finden und ihr harmonisches Zusammenspiel zu wahren.

Ihr nehmt euren Magen sehr ernst, nicht aber das Gehirn. Der Magen kommt natürlich zuerst, aber wenn ihr eurem Gehirn keine geistige Nahrung zuführt, verkümmert es. Es kommt in den Zustand eines Preta. Ein Preta ist ein unersättliches Wesen.

Vielleicht esst ihr absichtlich wenig, um euer Körpergewicht zu reduzieren, doch es ist nicht gut, auch im Gehirn abzunehmen. Jemand, der sein Gehirn nicht ernährt, sieht sehr schäbig aus. Seine Worte geben das hungrige Ungeheuer in ihm preis.

Ihr denkt, euer Körper ende an der Hautoberfläche. Doch ihr sollt wissen, dass euer wahrer Körper aus Sonne und Mond, Meeren und Flüssen besteht. Das ganze Universum ist euer Körper.

In der Einheit der materiellen Elemente (Erde, Feuer, Luft, Wasser) und der mentalen Elemente (Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen und Neigungen) ist das ganze Universum eingeschlossen. Und so betrachten wir diesen physischen Körper als den Schrein des Bewusstseins.

Der Unterleib (Hara) ist die Basis des Lebens – unter Hara verstehen wir aber nicht nur den physischen Unterleib mit seinen Organen, sondern den Sitz der Lebenskraft.

Wenn man den Körper ohne jedes Zweckdenken benutzt, weiß man für alles die exakte Zeit. Wenn man ihn hingegen für die eigenen egoistischen Zwecke benutzt, spürt man den richtigen Zeitpunkt nicht.

Meditation

Richtige Meditation besteht aus der Sammlung (Konzentration) des Geistes, dem Zur-Ruhe-Bringen aller mentalen Aktivitäten und dem Eintauchen in die lebendige Stille jenseits aller Tätigkeit. In dieser Stille befindet sich die Quelle der geistigen Nahrung, welche nie versiegt.

Die beste Darstellung der Meditationshaltung findet man in den Figuren von Buddha: Ruhig, in tiefer Stille, denkt er nach.

Ihr braucht euch nicht absichtlich in einen Meditationszustand zu versetzen, er stellt sich von selbst ein, sobald man sich auf etwas mit vollkommener Hingabe konzentriert.

Man soll entspannt meditieren. Sitzt in einer natürlichen Haltung ohne Anstrengung des Körpers oder des Geistes! Erlaubt eurem Geist zuerst, sich frei mit dem Gedankenfluss und all den auftauchenden Träumen zu bewegen, bis ihr ihn allmählich mehr und mehr auf das Zentrum hin konzentrieren könnt. Dieses Zentrum ist der reine Geist.

Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal meinen Geist untersuchte und entdeckte, dass er immer in Bewegung war. Es kam mir vor, als schaute ich in einen schmutzigen Teich. Alles war in ständiger Aufruhr, aber den Boden konnte ich nicht sehen.

Ich bin ziemlich sicher, dass viele Menschen – Menschen im reifen Alter von fünfundvierzig Jahren und mehr – nie in ihren eigenen Geist hinein geschaut haben und keine Ahnung haben, was dort vor sich geht.

In ruhiger Meditation kann man alle Aktivitäten des Geistes sehen und beobachten, von der Oberfläche bis zum Grund. Es ist nicht nötig, diese Geistesaktivität anzuhalten – lasst sie einfach ziehen.

Was auch kommen mag und euch zuflüstert – glaubt es einfach nicht! Sagt “guten Tag” und lasst es ziehen.

In der ruhigen Meditation vernichten wir alle mentalen Erzeugnisse, allerdings nicht durch Gewalt, sondern durch Übung.

Ein Mensch mag während der Meditation das Gefühl haben, er steige höher und höher, doch gäbe man ihm in diesem Augenblick einen Schlag, würde er sehr schnell auf die Erde herunter fallen. Er steigt nicht wirklich zum Himmel auf, er stellt sich das bloss vor.

Man kann die mentale Aktivität objektivieren als wäre es die Aktivität eines anderen Menschen. Schliesslich hört sie ganz auf. Dann ist man im grossen Bewusstsein absorbiert. Das ist Samādhi.

Samādhi bedeutet, in die Tiefe der Wirklichkeit versunken zu sein. Es ist nicht wie im Schlaf, in welchem man vom Bewusstsein verlassen und ins Chaos der Dunkelheit eingetaucht ist. Im Samādhi ist man in die Wirklichkeit absorbiert, während im Schlafzustand auch die Weisheit schläft.

Sitzt auf der Stille! Wenn ihr über das Was und Warum nachdenkt, findet ihr auch in hundert Jahren das Zentrum nicht.

In tiefer Meditation wird man eins mit dem Objekt, über das man meditiert. Dann gibt es keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Dieses Aufheben der Grenzen nennt manSamādhi.

In dem Augenblick, in dem man frei von jeglichen Gedanken ist, kann man in das Mysterium des Universums spähen.

Sitzt fest auf dem Universum und bleibt sitzen, bis sich die Barriere zwischen euch und dem Universum aufgelöst hat.

Es ist wie bei einer Katze, die eine Maus beobachtet: Beide, die Katze und die Maus, befinden sich imSamādhi – in angeborener Konzentration! Wenn sich die Maus bewegt, bewegt sich die Katze, wenn die Konzentration der Katze nachlässt, rennt die Maus weg – dasSamādhi ist verloren.

Ihr sollt euch darin üben, mit dem Zustand vonSamādhi zu verschmelzen. Richtet euer Tun und Denken nur auf eine Sache. Wenn ihr “Ah” sagt, sollt ihr “Ah”sein.

Wir sagen,Samādhi beruhe auf einen starken Unterleib – aber es ist nicht nur das, man hat auch Glauben.

Das Geheimnis liegt nirgendwo anders als in eurer Seele, eurem eigenen Geist. Deshalb legt der Buddhist die Hände in den Schoss und schaut nach innen. So findet er das Gesetz in sich selbst und sieht Gott von Angesicht zu Angesicht.

Wer richtig meditiert, findet Geistesruhe imSamādhi. Er verlässt sich auf etwas sehr Tiefes und Unendliches. Er hat erkannt, dass das Leben nur eine Luftblase ist, welche in jedem Augenblick platzen kann; dies beunruhigt ihn nicht und er trauert nichts nach. Wovor sollte er sich fürchten?

Kümmert euch nicht um die Augen bei eurer Meditation, seien sie offen oder zu! Und denkt nicht in der Kategorie von Sein und Nicht-Sein! Die Zweiheit wird nicht durch Logik überwunden, sondern durch einen Werdeprozess.

Alle fünf Sinne sind wie Wasser, das die Abbildungen der Aussenwelt aufnimmt, aber nicht davon gefärbt wird.

Alle unsere Ängste und Sorgen sind wie Wellen, wie Schatten, die über das klare Wasser huschen und vergehen, gespiegelt, aber nicht festgehalten.

Tiefe Meditation,Samādhi, ist die Kerze, und die innewohnende Weisheit, die in der Meditation wirksam ist, ist das Licht.

In dieser Meditation vergisst man die Qual des Lebenskampfes, man verliert das schrecklich unsichere Gefühl. Man ist wie ein ehrlicher Christ, der auf Gott vertraut und keine Angst hat vor dem, was im nächsten Augenblick geschehen mag.

Die zehn Tugenden des Buddhismus lassen sich auf eine einzige reduzieren, nämlich auf die Kultivierung des ausgeglichenen Geistes. Der ausgeglichene Geist ist einfach und ehrlich, natürlich wie ein Baum, wie eine Wolke am Himmels, wie aufsteigender Rauch. Er ist frei von Anhaften, frei von Meinungen, frei von Ansichten, so, wie es der Natur entspricht.

Nach einer langen Nacht, in welcher der Buddha in vollkommener Stille weilte, sah er den Morgenstern in der Dämmerung blinken und wurde sich mit einem Mal seiner grenzenlosen Existenz bewusst. Er war Baum und Gras, Himmel und Erde – er war alles.

Religion

Aus meiner Sicht zeigt sich Religion nicht in der Zugehörigkeit zu einer Kirche oder zu einen Tempel. Der wahrhaftig religiöse Mensch handelt aus dem Herzen im Einklang mit der grossen Natur.

Am Sonntagmorgen höre ich manchmal Radio, wenn die Sonntagsschule für Kinder gesendet wird. Die Kinder lernen, dass die Christen von Gott geschaffen wurden während andere Völker, wie z. B. die Araber und Afrikaner, Heiden und deshalb minderwertig sind. Das ist schlimm für jene Leute, nicht wahr? Warum wurden nur die Christen von Gott geschaffen? Viele Menschen wurden wegen solchen Ideen gekreuzigt oder lebendigen Leibes verbrannt. Wenn der Geist durch solche falschen Ansichten verzogen wird, gibt es keine Befreiung von unnötigem Leiden.

Es scheint sehr schwierig zu sein, natürlich zu leben. Viele Lehrer sprechen über Religion, sind aber nie in sie eingetreten. Das ist so, wie wenn jemand vor einem Restaurant steht. Er kennt den Geruch von Beefsteak, hat es aber nie gegessen.

Warum faltet ihr die Hände zum Gebet vor dem Essen? Weil es Religion ist. Ohne Religion isst man einfach. Wenn das menschliche Leben so flach ist, wie das Wasser in einem Teller, gibt es nicht viel Freude. Von morgens bis abends bloss herumrennen – wozu? Fast alle Menschen leben ihr Leben auf derartig armselige Art und Weise. Kein Wunder, dass sie es nicht geniessen können und Geld oder Ruhm oder sonst etwas haben müssen ausser dem Leben selbst.

Ich erfreue mich an etwas, das keinen Namen hat, aber ganz natürlich ist. Vielleicht ist es das, was man den Himmel auf Erden nennt oder das Reine Land. Es ist wunderbar, dieses Reine Land. Jemand lud mich ein, für einen Monat mit in die Ferien zukommen. Ich lehnte ab. Ich bleibe lieber hier und lebe in meinem eigenen reinen Geist.

Mir liegt daran, wirklich zu handeln: Gehen, Schlafen, Essen, Sprechen – jeder Augenblick ist für mich Religion.

Religion kann nicht jenseits der Welt existieren, man muss / herunterkommen zu Schinken und Ei, Brot und Butter. Die
Idee der Flucht aus dem weltlichen Leben ist nicht gut.

Jeder Mensch muss die in seinem eigenen Herzen und Geist geschriebenen Gebote finden.

Das Ego soll einfach an seinen rechten Platz kommen und aus dem Zentrum des menschlichen Geistes verschwinden. Dann offenbart sich der Himmel von selbst.

Die angeborene Weisheit, die uns befähigt zu erwachen, ist unsere Urnatur. Wie die Taube, die zu ihrem weit entfernten Nest zurückfliegt, so haben auch wir einen Heimkehrinstinkt der uns zum ursprünglichen Zuhause unserer Seele führt.

Nun stellt euch vor, die Taube hört auf einen Spatz, der zu ihr sagt : “Das ist nicht der richtige Weg. Du musst in die gleiche Richtung fliegen wie ich.” Also folgt die Taube dem Spatz. Dann sagt die Schlange im Baum: “Taube, das ist nicht dein Weg, komm zu mir.” Die Taube hört auf die Schlange und wird von ihr zerdrückt. So halten euch all die “-ismen”, die verschiedenen Philosophien und religiösen Dogmen von eurer eigenen natürlichen Orientierung ab.

Reinigt euren Geist von allen Vorstellungen, von jeglichen “-ismen” und ihr werdet eure eigene Urnatur finden.

Wenn das, was überliefert wurde, zur Formel wird, hat es keine lange Lebensdauer.

Es kommt darauf an (Sokei-an zeigt auf sein Herz). Wir müssen etwas Ursprüngliches, Natürliches haben, etwas, das nicht Buddhismus ist oder Zen, Wissenschaft, Religion oder Philosophie ist. Es muss aus uns selbst entstehen.

Normalzustand

Viele Menschen befinden sich in einer Art Traumzustand. Sie sind von morgens bis abends in unwirkliche Gedanken verstrickt. Sie überdecken die Tatsachen ihres Lebens mit Gedanken und halten diese Gedanken für wahr.

Euer Geist sollte ein Werkzeug sein, das euch zur Verfügung steht. Doch statt ihn zu benutzen, rennt ihr in alle Richtungen, von einem Ort zum andern, getrieben von den Geistesinhalten.

Ihr werdet von eurem eigenen Diener benutzt, weil ihr ihn selbst nicht benutzen könnt.

Wenn ein blinder Mensch etwas sagt, folgen ihm alle anderen blinden Menschen, weil sie kein eigenes Führungsprinzip haben, nachdem sie sich richten.

Zuerst bringt ihr euch mit euren Gedanken ins Gefängnis, und dann weigert ihr euch herauszukommen.

Menschen mit einem kleinen geistigen Radius leben in einer sehr engen Welt. Kleinliche Menschen sind oft schlecht gelaunt und misstrauisch. Sie schaffen sich diese Gemütslage selbst. Niemand anders setzt sie in diese kleine Welt. Andere Menschen verhalten sich in gleichen Umständen völlig anders, sie leben in einer grossen Welt, strukturiert durch Einsicht und Ethik.

Als Kind hatte ich eine Tante, die mir jedes Mal eine Süssigkeit mitbrachte, wenn sie uns besuchen kam. Deshalb wartete ich immer begierig auf ihren Besuch. Einmal kam sie sehr spät nachts, als ich schon schlief. Ich nehme an, dass ich aufwachte und die Süssigkeit ass, denn am Morgen fand ich etwas Zerquetschtes auf meinem Kissen, und mein Mund war verschmiert – aber ich erinnerte mich nicht, etwas gegessen zu haben. Warum konnte ich den Geschmack der Süssigkeit in meinem schlafenden Geist nicht schmecken? Da ich sie nicht mit wachem Sinn gekostet hatte, prägte sich keine Erfahrung des Genusses ein. Die meisten Menschen verbringen ihr ganzes Leben so.

Zu viel Geschwätz führt einen in tiefes Wasser, aus welchem man nur schwer wieder herauskommen kann.

Der Geist, den man gewöhnlich “trägt” ist von anderen Menschen gemacht. Man lebt und handelt in Massengedanken, Massenbewusstsein und Massenpsychologie. Schaut euch nur mal die Hutablage in einem Restaurant an: Alle Herrenhüte sehen gleich aus.

Die parteiischen Gefühle von Liebe und Hass stellen sich allem in den Weg, nichts kann seinen natürlichen Gang gehen. Man weigert sich, den Sohn eines verhassten Feindes im eigenen Geschäft anzustellen, auch wenn er der richtige Mann wäre, und wenn man wählen kann zwischen einer jungen koketten Sekretärin und einer älteren erfahrenen, wählt man die kokette.

Leben und Tod

Die Frage von Leben und Tod ist wichtig. Geht nach Hause und meditiert! Schaut in eure eigene Weisheit hinein! Benutzt sie! Sie ist nicht in Büchern zu finden, und es ist nicht nötig, andere zu fragen.

Wenn dann der letzten Moment kommt, können wir nicht sagen: “Warte ein wenig, ich muss dieses Problem erst noch lösen.” Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Augen zu schliessen, Adieu zu sagen und den letzten Atemzug zu tun. Dann haben wir keine Zeit mehr, über Leben und Tod nachzudenken.

Wenn jemand stirbt, geht nichts verloren aus der Welt, und wenn jemand geboren wird, wird nichts zugefügt.

Die innewohnende Weisheit stirbt im Tod nicht, denn die Urnatur ist Weisheit. Man wird mit ihr in diese Welt hinein geboren.

Geburt und Tod finden nicht am Anfang bzw. am Ende des körperlichen Lebens statt, sie geschehen immerwährend auch auf der Ebene der Gedanken und Gefühle.

Wenn man von einer Brücke ins Wasser schaut, hat man das Gefühl, die Brücke fliesse, aber dem ist nicht so, das Wasser fliesst. Ihr denkt, ihr werdet alt, aber das, was alt wird, seid ihr nicht selbst. Euer Selbst ist immer jung. Und das Selbst ist nicht in Bewegung, es ist immer still. Das, was sich bewegt, sind wir nicht selbst, sondern die vier Elemente unseres Körpers und die Geistesinhalte. Wenn wir dies nicht wissen, machen wir Fehler.

Vermischtes

Rechte Sicht besteht darin, ohne vorgefasste Meinung an die Dinge heranzugehen.

Wir sind so klein, wenn wir uns anstrengen, unsere egozentrische Weltanschauung beizubehalten.

Es gibt keine anhaltende Güte und keine bleibende Schlechtigkeit. Beide bringen zwangsläufig ihr Gegenteil hervor.

Ihr denkt, Heilige müssten erhaben aussehen, aber “heilig” ist keine Sache des Aussehens, es ist im Herzen.

Wenn eine Tat nicht vom Herzen kommt, lass ich sie lieber bleiben.

Wenn ein Mensch versucht, etwas zu “machen”, verliert er seinen Halt. Lasst die Dinge aus sich selbst heraus wachsen!

Wir sollten nicht auf die Fehler der anderen schauen, wir sollten unsere eigenen Fehler verstehen.

Ob man abseits der Welt lebt oder mitten drin, es ist ein und dieselbe Welt, es gibt nur eine einheitliche Existenz, wie viele Namen man ihr auch geben mag.

Wenn man zur Wahrheit gelangt, und diese nicht für das tägliche Leben verfügbar macht, ist das meiner Ansicht nach eine Schwäche oder ein Mangel.

Stellt euch vor, der Arzt gibt euch ein Rezept für die Medizin, die ihr einnehmen sollt. Ihr geht nach Hause und verschluckt das Papier. Das würde euch gar nichts nützen. Ihr müsst die Medizin selbst schlucken. So ist es auch mit Worten. Ihr könnt philosophische Abhandlungen über die Wirklichkeit lesen, aber dadurch werdet ihr die Wirklichkeit nicht kennen.

Für jemanden, der das universelle Gesetz wirklich versteht, gibt es nichts zu verachten oder abzulehnen. Man betrachtet jedes Ding gemäss seiner eigenen Natur, den hässlichen Floh genau so wie die schöne Nachtigall.

Wo ist euer ursprüngliches Zuhause? Es ist nicht das Haus von Vater oder Mutter, es ist nicht eure Wohnung.

Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, erkenne ich, dass ich in der Jugend mein Denken benutzte, um die Aufgaben des Lebens zu bewältigen. Später benutzte ich meinen Geist und mein Herz und nun versuche ich, meine Seele zu benutzen, d.h. ich überlasse es meiner Natur zu handeln.

Alles hergeben heisst, alle Sorgen aufgeben, restlos alle Sorgen.

Wenn man jemanden liebt, muss man entsagen können, andernfalls ist die Liebe ein Anhaften oder Besitzergreifen.

Im menschlichen Leben ist das Entsagen die edelste Sache und Liebe die süsseste.

Kapitalismus ist die Peitsche der Galeere. Heutzutage werden die Menschen werden nicht mit Eisenketten gefesselt, sondern mit Dollarnoten.

Philosophie erleuchtet nicht: Sie ist ein Gebilde, weiches aus unseren eigenen Geistesinhalten aufgebaut wurde. Sie gleicht den Bauklötzen, mit denen Kinder spielen.

Alle Lebewesen, alle Gedanken, auch alle Wissenschaften entspringen aus der einen ewigen, vollkommenen, unveränderlichen Wirklichkeit. Es ist wie mit Kaulquappen: unzählige Kaulquappen entstammen einem einzigen Frosch.

Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten und denken, sindsAuswirkungen unseres eigenen Geistes. Wenn wir den Geist wegnehmen, ist nichts da – keine Farbe, kein Geräusch, kein Berg, kein Fluss.

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Meditationspraxis – “Weil man nicht vom Brot allein lebt”

Der Druck des sogenannten “normalen Lebens” droht heutzutage überhand zu nehmen, so dass eine einmal begonnene Praxis leicht “wichtigeren Dingen” zum Opfer fällt. Doch ohne Kontinuität der Übung verzerrt sich die Sicht der Dinge durch die vermeintlichen “Anforderungen des Lebens” und es wird schwierig, auf dem Weg zu bleiben.

Was ist das Problem? – Die Gewohnheiten!

Unser Leben wird zum grössten Teil durch automatisches Verhalten bestimmt, das durch die Sinne ausgelöst wird. Beliebige Geschehnisse oder Dinge ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und man reagiert reflexartig, wie ein Pawlovischer Hund. Jede Wiederholung verstärkt ein Verhalten und rechtfertigt damit seine Existenz. Will man ein neues Verhalten einführen, muss dieses mit den alteingesessenen Gewohnheiten konkurrieren. Jede alte Gewohnheit wird durch eine tadellose Logik verteidigt. Die eingefahrenen Verhaltensmuster sind, jedenfalls für uns selbst, vollkommen gerechtfertigt, und so folgt unser Leben einem mehr oder weniger vorhersehbaren Muster.

Dieses vorhersehbare Leben wird ab und zu erschüttert durch unvorhersehbare Geschehnisse im persönlichen Umfeld oder in der Welt. Nicht selten dienen solche Momente ernsthaften Menschen dazu, einige grundlegende Lebensfragen neu zu überdenken. Dann kann es sich allerdings zeigen, dass die in solchen Zeiten der Introspektion nötigen “Instrumente” schon lange verrostet sind oder dass man sie überhaupt nicht mehr finden kann; vielleicht hat man sie auch gar nie entwickelt.

Die Gewohnheit, Geistesklarheit zu üben, wurde völlig vom Zwang der normalen, alltäglichen Existenz verdrängt. Manche Menschen sehen dann die Notwendigkeit, sich ihrem Weg neu zu verpflichten, in dem sie sich vom normalen Ablauf ihrer Verhaltensmuster zurückziehen, und es sich wieder zur Gewohnheit machen zu üben. Wenn diese Gewohnheit einmal neu erwacht ist, muss man sie wach halt. Das ist die Schwierigkeit.

Wie kann man eine regelmässige Meditationspraxis inmitten des alltäglichen Lebens aufrechterhalten?

Am einfachsten ist es, die beiden “ungleichen” Komponenten zu integrieren. Dann werden die alltäglichen Aktivitäten zur Übung und umgekehrt. Das ist gemeint mit Praxis. Ein Retreat (Rückzug in die Stille) bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, mit diesem Integrationsprozess zu beginnen. Die alltäglichen Aktivitäten im Geiste der Zurückgezogenheit zu erleben, bereitet den Boden für die Erneuerung einer anhaltenden Praxis. Jeder erfahrene Rückzug von einer alten Gewohnheit fügt dem Boden Nahrung zu und festigt ihn. Probieren Sie es aus.

Dhyāna Frühling 2002

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
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