Die Lehre vom Tao

Die Lehre vom Tao – Gemäß der klassischen Anleitung des indischen Yogi Patanjali ist Dhyāna einer der acht Schritte des höchsten Yogaweges; im Buddhismus ist es einer der acht Facetten des Erleuchtungsweges, und in China steht Ch’an für die Meditationsform, die aus der Begegnung des Buddhismus und des Taoismus entstanden ist.

Viele Leute meinen, die bekannten Wege von Yoga, Tai Chi Chuan, Chi Qung und Zen-Meditation seien separate Wege aus den Ländern Indien, China und Japan. Doch dem ist nicht so, denn sie stammen alle aus der gleichen Wurzel. Dies spiegelt sich nicht nur in der sprachlichen Verwandtschaft, sondern vielmehr noch in ihrer Methodik und in ihrem Ziel: Alle drei Wege streben nach der Aufhebung der gedanklichen Trennung von Körper und Geist und der mit dieser Aufhebung verbunden Erfahrung der Transzendenz. Alle drei betonen dabei die führende Rolle des Atems. Ob es um meditative Versenkung, meditative Körperübungen oder meditatives Tun im Alltag geht, es beginnt immer beim bewussten Atmen.

Die philosophische Terminologie und die verwendeten Sinnbilder und Symbole der jeweiligen Schule unterscheiden sich natürlich entsprechend ihrer Kultur, aber ihre Frucht hat nur einen Geschmack: der Geschmack von Freiheit, Freude und innerem Frieden. Wer ihn gekostet hat, hat keinen Platz mehr im Herzen für Intoleranz und Sektierertum.

In der Überlieferung präsentieren sich die drei Lehren in der Form von drei wunderschönen literarischen Perlen. Die dem Yoga zu Grunde liegende Weisheit ist in der Bhagavadgita konzentriert, Buddhas Weisheit im Dhammapada, die taoistische Weisheit im Tao Te King. Alle drei Werke finden auf wenigen Seiten Platz. Sollten sämtliche Bücher der Welt verloren gehen, der Erhalt dieser drei Bändchen, eventuell ergänzt durch die Yoga-Aphorismen von Patanjali, würden genügen, um das gesamte Weisheitsgut des Ostens zu bewahren.

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Im Zen kommen Yoga. Buddhismus und Taoismus zusammen. Für die Zenpraxis kann es sehr hilfreich sein, ein wenig von seiner dreifältige Wurzel zu verstehen. Deshalb ist diese Nummer der Dhyāna dem Taoismus gewidmet. Buddhismus und Yoga wurden bereits in vorhergehenden Nummern behandelt.

Die Lehre vom Tao ist vor allem von den zwei Meistern Lao-tzu und Chuang-tzu geprägt. Lao-tzu verdanken wir das Tao Te King. Da dieses das Zentrum des ganzen Taoismus ist, wird es auch in dieser Zeitschrift in der Mitte vorgestellt. Chuang-tzu brachte die Lehre vom Tao in den chinesischen Alltag.

Der Weg des Chuang-tzu stützt sich weitgehend auf Kommentare des Trappistenmönchs Thomas Merton, welcher sich jahrelang mit den Schriften von Chuang-tzu beschäftig hatte, weil er eine tiefe Seelenverwandtschaft damit verspürte. Das Tao des Atmens ist eine kleine Einführung in die taoistische Meditationstechnik. Taoismus und Zen-Buddhismus gibt einen allgemeinen Überblick über einige direkte Beziehungen zwischen Taoismus und Zen-Buddhismus.

Agetsu



Grundlagen des Taoismus

Die Prinzipien 

Die zentralen Begriffe des Taoismus sind Tao und Te. Wörtlich bedeutet Tao „Weg“. Es kann aber auch als „Lehre“ übersetzt werden. Der zweite Hauptbegriff, Te, steht für die Wirkkraft des Tao und wird als „Leben“ oder „Tugend“ übersetzt. Aus Tao und Te entspringen die beiden Kräfte Yin und Yang, welche zusammen in ständiger Wandlung den ganzen Kosmos hervorbringen. Die Harmonie zwischen Yin und Yang beruht auf der Urenergie Ch’i. Ch’i manifestiert sich als Vitalenergie und wird durch den Atem erzeugt und aufrechterhalten.

Die Heimat des Taoismus ist China, doch seine Lehre ist universal. Sie beruht auf der Kontemplation zeitloser Naturgesetze und deren Übertragung auf die Menschenwelt. Das Ziel der Taoisten ist pragmatisch und menschennah: Ein Leben in grösstmöglicher Harmonie mit der Natur, welche ein Spiegel für das Tao ist. 

Die Harmonie mit dem Tao wird angestrebt, indem man das Wesen des Tao studiert und nachahmt. Die Frucht ist ein Leben in Gelassenheit und innerem Frieden. Man lässt die Dinge geschehen, statt alles selber tun zu wollen. Diese Haltung kommt im Begriff Wu-Wei zum Ausdruck. Wu bedeutet „nicht“ Wei bedeutet „Tun, Handeln“; Wu-Wei bedeutet demnach „Nicht-Handeln“ oder „Nicht-Tun.“ 

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Zusammengefasst ist der Taoismus die Lehre vom richtigen menschlichen Verhalten im Einklang mit der grossen Natur. Wie die Natur soll der Mensch über allen Gegensätzen stehen. Am Beispiel der Natur soll er erkennen, dass Geburt und Tod die Einheit des Lebens ausmachen, und wie die Natur soll er dem Lauf der Dinge folgen ohne an der Illusion eines Ichs zu hängen.

Das Ideal ist der „Mensch des Tao“ oder der „Wahre Mensch“. Dieser ist gekennzeichnet durch Zurückhaltung und Bescheidenheit. Frei von egozentrischen Bestrebungen folgt er unauffällig dem Weg. Er kümmert sich nicht um öffentliches Ansehen oder um öffentliche Ämter. Er wirkt im Verborgenen zum Wohle aller Wesen. Seine Weisheit wird verglichen mit der eines Kindes oder eines rohen Steins, seine Gleichmut erinnert an tote Asche oder totes Holz.

In China umfasste der Taoismus zwei grosse Strömungen: den sogenannten religiösen Taoismus (Tao-chiao) und den sogenannten philosophischen Taoismus (Tao-chia). Während es im philosophischen Taoismus in erster Linie um die Vereinigung mit dem Tao im alltäglichen Leben geht, befasst sich der religiöse Taoismus mit Fragen der Lebensverlängerung und der Unsterblichkeit.

Der religiöse Taoismus ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Riten und Zeremonien, auch Alchemie und Sexualpraktiken spielen dabei eine wichtige Rolle. Da es in der vorliegenden Zeitschrift hauptsächlich darum geht, die taoistischen Wurzeln des Zen-Weges zu ergründen, genügt es, sich auf den philosophischen Taoismus zu beschränken und die Kultaspekte ausser Acht zu lassen. 

Die Quellen 

So, wie es für die meisten westlichen Menschen ganz normal ist, mit dem Begriff „Gott“ aufzuwachsen, so gehört für chinesische Menschen der Begriff „Tao“ ganz natürlich zum Leben. Wie das Wort „Gott“ so lässt auch das Wort „Tao“ aber viel Raum für Vorstellungen und Spekulationen. Niemand kann definieren, was Gott bzw. Tao ist.

Entsprechend umfangreich ist die philosophische Literatur und das Spektrum der Praktiken. Doch die Aussagen und Anwendungen des Taoismus gelten nur dann als authentisch, wenn sie sich glaubwürdig auf die zwei Hauptvertreter Lao-tzu und Chuang-tzu berufen. Lao-tzu ist der legendäre Autor der Spruchsammlung Tao Te King, Chuang-tzu wird die Sammlung von Texten in Das wahre Buch vom südlichen Blütenland zugeschrieben. 

Eine andere Hauptquelle, aus welcher der Taoismus schöpft, ist das Buch der Wandlungen, I Ching. Es handelt von den beiden Kräften Yin und Yang und ist Urquelle der chinesischen Weisheitslehren und Wissenschaften schlechthin. Nicht nur der Taoismus ist davon geprägt. 

Weitere Schriften zum ursprünglichen Taoismus, welche in westliche Sprachen übersetzt vorliegen, sind: Wen-tzu, eine Sammlung von Gesprächen, die ein Schüler mit Lao-tzu geführt haben soll; Das wahre Buch vom quellenden Urgrund von Lie-tzu und ein oft zitiertes Werk namens Huai-nantzu ohne einen bestimmten Autor. 

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Lao-tzu (auch Lao-tse geschrieben) soll im 6. Jh. v. Chr. gelebt haben und ein Zeitgenosse von Shakyamuni Buddha und von Konfuzius gewesen sein (s. S.3). Lao-tzu bedeutet wörtlich „Alter Meister“. Um ihn spinnen sich, ähnlich wie um andere alte chinesische Meister, zahlreiche Legenden. Er ist auch unter den Namen Lao Tan und Lao Erh bekannt. Gemäss historischen Aufzeichnungen war er Archivar am Hof von König Chou. Eines Tages beschloss er, diesen Posten aufzugeben und nach Westen auszuwandern.

Auf dem Weg über einen Pass traf er den Grenzwächter Yin Hsi. Dieser bat den Wanderer, ihm seine Lehre kundzutun, worauf Lao-tzu 5000 Zeichen malte und darin die ganze Weisheit des Tao Te King niederschrieb. Danach soll er für immer verschwunden sein. Eine chinesische Version besagt, er sei nach Indien gegangen, habe dort den Buddha getroffen, und dieser sei sein Schüler geworden. 

Auch wenn moderne Historiker darin übereinstimmen, dass das Tao Te King nicht von Lao-tzu persönlich verfasst wurde und später entstanden ist, erfreut sich die Vorstellung vom weisen Alten, der einem einfachen Grenzwächter einen der grössten geistigen Schätze der Menschheit überreichte, bis heute grosser Beliebtheit, nicht nur in China, sondern überall dort, wo das Tao Te King gelesen wird. 

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Chuang-tzu (auch Dschuang Dsi und Chuang Chou geschrieben, ca. 369 – 286 v. Chr.) gilt zusammen mit Lao-tzu als Begründer des Taoismus. Im Gegensatz zu Lao-tzu handelt es sich um eine nachweisbar historische Gestalt. Seine Abhandlungen knüpfen am Tao Te King an, nehmen aber deutlicher Bezug zu den gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit, welche gekennzeichnet war durch Kriege und Umwälzungen.

Ebenso wie Laotzu galt Chuang-tzu als ein Kritiker des Konfuzianismus. Der von Konfuzius geprägten Staatsform warfen die Taoisten vor, sie pervertiere die von ihr propagierten Werte der „Menschlichkeit“ und „Sittlichkeit“ so, dass sie zur Künstlichkeit und zum rituellen Dogmatismus verkämen.

Das Ideal der Taoisten war dem höfisch geprägten Ideal der Konfuzianer diametral entgegengesetzt, es bestand darin, ein ganz natürlicher und bescheidener Mensch zu sein. Während sich das Tao Te King auf knappe Verse beschränkt, besteht das Werk von Chuang-tzu aus mehreren Büchern mit fiktiven Dialogen, Gleichnissen und Fabeln, die ihn als grossen Denker und Wissenschaftler aber auch als feinfühligen Poeten offenbaren. 

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Ob Wen-tzu ein Pseudonym ist und ob dahinter tatsächlich ein Schüler von Lao-tzu steckt. darüber sind sich die Forscher nicht ganz einig. Die Schrift mit diesem Namen ist eine Art Fortführung des Tao Te King und gehört zweifellos in die Tradition der klassischen Schriften des Taoismus. Ihre Enstehungsgeschichte liegt im Dunkeln, die Historiker ordnen sie dem letzten Jahrhundert vor der Zeitwende zu.

Der Inhalt des Went-zu, das auch unter dem Titel Das Verstehen des Geheimnisses bekannt ist, könnte auch als die Quintessenz der Lehren von Lao-tzu und Chuang-tzu verstanden werden. In ihm konsolidieren sich die Ideen der Taoisten und der Konfuzianer zu einer Philosophie mit deutlich menschlichem Bezug. 

Die Basis bildet die Vorstellung, dass die Menschheit ihre uranfängliche Reinheit bereits in vorgeschichtlicher Zeit verloren hat und wieder gewinnen soll. Auch das Wen-tzu betont, dass dies nur durch die Rückkehr zur Natur gelingen kann und dadurch, dass sich der Mensch von allem Künstlichen befreit. Wenn man den Lokalkolorit entfernt und nur auf den Inhalt achtet, klingen einige Ideen und Ansätze erstaunlich vertraut und geradezu modern. 

Das Wen-tzu fordert deutlich die Unterordnung des Menschen unter das Gesetz des Geistes. Dies sei wichtiger als der Besitz materieller Güter. Wenn innerhalb des Individuums Einheit von Körper und Geist bestehen, dann auch innerhalb der Gesellschaft. Mit der Botschaft, dass sich Individuelle und soziale Gesundheit gegenseitig bedingen, steht das Wen-tzu tatsächlich in direkter Verwandtschaft mit Lao-tzu und Chuang-tzu. 

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Lie-tzu (auch Liä Dsi) gilt als der Verfasser von Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Das Werk entstand aber vermutlich im 2. Jh v. Chr., als Lie-tzu bereits nicht mehr am Leben war und hat verschiedene Autoren. Seinen hohen Stellenwert innerhalb der klassischen taoistischen Literatur verdankt das Buch u.a. der reichhaltigen Verwendung von Volkssagen und Mythen, um das taoistische Gedankengut zu veranschaulichen. Ein Hauptmerkmal von Lie-tzu ist außerdem die Auffassung der mechanischen Gesetzmässigkeit der Natur: Niemand kann die Wirkung der Natur durchschauen und im voraus wissen.

Aus diesem Grund gab es in der Ansicht von Lie-tzu keinen Platz für einen freien Willen (s. S. 10). Das Beste, was der Mensch tun kann, ist, die Gesetze der Natur zu studieren und anzuwenden. Lie-tzu selbst soll es in der Anwendung der taoistischen Prinzipien sehr weit gebracht haben. Es wird berichtet, dass er nach neun Jahren taoistischer Praxis auf dem Wind geritten sei. 

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Das Huai-nan-tzu ist die jüngste der erwähnten Schriften (vermutl. 2. Jh. v.Chr.). Es ist eine Sammlung von Abhandlungen. Die Schwerpunkte bilden Theorien zur Entstehung des Kosmos und die Lehre der Fünf Elemente, die den Ablauf der Naturerscheinungen regeln. 

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K’ung-tzu, (Konfuzius, 551-479) ist der Begründer des Konfuzianismus, der alles bestimmenden Staatsdoktrin von China. In ihr verbanden sich philosophische, religiöse, und sozialpolitische Aspekte zu einer übergreifenden Lehre. K’ung-tzu fühlte sich berufen, die verlorene Reinheit und Harmonie der Alten wiederherzustellen. Auch er berief sich auf das Tao.

Zentrale Begriffe seiner Lehre waren „Menschlichkeit“ und „Sittlichkeit“, das Ideal war der „fürstliche“ bzw. der „königliche“ Mensch. Dieser zeichnete sich durch Güte und vollkommenes Verhalten aus. Ob die Güte eine naturgegebene Eigenschaft des Menschen sei oder ob der Mensch erst dazu erzogen werden müsse, war Gegenstand diverser Streitgespräche.

K’ung-tzu basierte seine politische Haltung auf der Vorstellung, dass alles bei seinem „richtigen Namen“ genannt werden müsse, damit Ordnung herrschte, d.h. Ordnung herrscht dann, wenn alles seinem Namen entspricht: Ein König muss ein König sein, ein Fürst muss ein Fürst sein. Diese Auffassung erfordert zwangsläufig eine Menge Vorschriften und ausgeklügelte Definitionen. Die Exponenten und Garanten des „rechten Lebenswandels“ waren die Herrscher und deren Beamten. Das Leben des Volkes wurde durch zahlreiche Riten und Dogmen bestimmt. 

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Der Taoismus bildete eine Art Gegenbewegung zu dieser Staatsgläubigkeit. 



So sprach Lao-tzu

Wer je in Kälte oder Hitze, in Nässe oder Trockenheit körperlichen Schaden erlitten hat, weiss, dass der Geist erstickt, wenn der Körper erschöpft ist. Wessen Geist durch Gefühle und Gedanken verletzt ist, der weiss, dass der Körper auf der Strecke bleibt, wenn der Geist erschöpft ist. Daher vertrauen wahre Menschen bewusst ihrer innersten Natur und ihrem Geist, die sich gegenseitig stützen. So kommt es, dass sie schlafen, ohne zu träumen, und erwachen, ohne von Sorgen bedrückt zu sein. 

In Zeiten des Verfalls gruben die Herrscher nach Mineralien, sie schürften nach Erz und suchten nach Jade, schmolzen Metalle; also konnte nichts blühen und gedeihen. Sie öffneten trächtigen Tieren den Bauch, plünderten Vogelnester. Sie schlugen Bäume, um Häuser zu errichten, sie brannten Wälder nieder, um ihre Felder zu vergrössern, sie fischten in den Seen, bis es dort keine Fische mehr gab.

Sie häuften Erde an, so dass sie auf Hügeln leben konnten und gruben in die Erde, um aus Brunnen trinken zu können. Sie machten die Flüsse tiefer, um Wasserreservoirs anzulegen, sie errichteten Stadtmauern, die sie für sicher erachteten, hielten Tiere und zähmten sie. 

So waren Yin und Yang verworren: Die vier Jahreszeiten folgten nicht mehr ihrer Ordnung, Donner und Blitz führten zu Zerstörung, Hagel und Frost richteten Schäden an. Viele Wesen starben verfrüht, Pflanzen und Bäume welkten im Sommer, die grossen Flüsse hörten auf zu fliessen. Berge, Flüsse, Täler und Schluchten wurden aufgeteilt und abgegrenzt.

Gerätschaften und Hindernisse wurden zu Verteidigungszwecken gebaut, die Farben der Kleidung wurden geregelt, um die gesellschaftlichen Schichten zu unterscheiden. Belohnungen und Strafen wurden den Guten und den Unwürdigen zugemessen. So entwickelten sich die Bewaffnung, und es kam zu Kämpfen. Hier begann das Hinschlachten von Unschuldigen. 

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Gesetze fallen nicht vom Himmel und entspringen nicht der Erde, sie entstammen der Selbstreflexion und Selbstkontrolle der Menschen. Wenn du wirklich an der Wurzel angelangt bist, werden dich die Zweige nicht mehr verwirren; wenn du weisst, was wesentlich ist, werde dich keine Zweifel mehr plagen. 

Der Weg des Chuang-tzu 

Mit Humor. literarischer Genialität, Gelehrsamkeit. und tiefer Einsicht nahm Chuang-tzu Bezug auf Geschehnissen und Auseinandersetzungen seiner Zeit, in dem er sie im Lichte des grossen Tao beleuchtete. Während einige von ihm behandelte Themen eine enge Vertrautheit mit dem chinesischen Konfuzianismus erfordern, sind andere dank ihrer Universalität oder immer wiederkehrenden Aktualität auch auf unsere Verhältnisse übertragbar. 

Charakteristisch für Chuang-tzus Weg sind: Kritik an gekünsteltem Gehabe, Ablehnung von jeglichem absichtsvollen Streben nach Glück und Tugend, schlichter Lebenswandel in Abgeschiedenheit, vollkommene Hingabe an das grosse, ewige Tao, spontanes Handeln ohne Absicht und Ego (Wu-Wei). 

Wer im konfuzianischen China irgend einen Einfluss haben wollte, sei es als Wissenschaftler, Arzt, Priester oder Geschäftsmann, musste dafür sorgen, dass er einen Posten im öffentlichen Dienst bekam, denn nur die Beamten galten als vollwertige Bürger. Doch Chuang-tzu weigerte sich, sich so einspannen zu lassen. Folgende Anekdote ist typisch für ihn: 

Eines Tages, als Chuang-tzu beim Fischen war, sandte der Prinz Chu seine zwei Vizekanzler zu ihm mit einem formalen Schreiben: „Hiermit erklären wir Sie zum Ministerpräsidenten.“ 

Chuang-tzu wandte seinen Blick nicht vom Wasser und sagte: „Es soll irgendwo eine heilige Schildkröte geben. Sie wurde vor dreitausend Jahren heilig gesprochen. Sie befindet sich in Seide gehüllt in einem wertvollen Schrein auf einem Altar im Tempel, und der Prinz huldigt ihr. Was ist wohl besser, sein Leben aufzugeben und eine heilige Schale zurückzulassen und dreitausend Jahre lang als Kultobjekt in einer Weihrauchwolke zu dienen oder als eine gewöhnliche Schildkröte zu leben und den Schwanz im Schlamm nachzuziehen?“ 

„Für die Schildkröte ist es sicher besser, zu leben und den Schwanz im Schlamm nachzuziehen“, antwortete einer der Vizekanzler. 

„Dann geht nach Hause und lasst mich meinen Schwanz im Schlamm nachziehen“, sagte Chuang-tzu. 

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Diese Haltung führte zu einer Kontroverse, die auch in unserer Zeit nicht unbekannt ist. Es ist die Frage, ob der einzelne Mensch das Recht habe, sich nur um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern oder ob es seine Pflicht sei, seinen Teil zum Allgemeinwohl beizutragen, auch wenn dies seinen eigenen Interessen zuwiderläuft. Haben wir es bei Chuang-tzu mit einem Egoisten zu tun, der sich der Allgemeinheit aus Eigennutz entzieht?

Eng damit verknüpft ist die Frage, was mehr zählt: das Leben und die Integrität der Person oder die Aufgabe, zu der die Person zugunsten des Allgemeinwohls aufgeboten wird? Viele Texte im Wahren Buch vom südlichen Blütenland nehmen auf diese Frage Bezug. Kurz zusammengefasst muss man sagen: Es kommt auf die Motivation an. 

Chuang-tzu verweigerte sich nicht aus persönlichem Interesse, er war kein Anhänger der sogenannten persönlichen Freiheit, die dem Individuum erlaubt zu tun, was immer ihm beliebt, um in selbstzentrierter Spontaneität zu schwelgen. Wenn sich Chuang-tzu gegen die Übernahme eines öffentlichen Amtes wendete, geschah dies nicht, weil er nicht mit ermüdenden Pflichten belästigt werden wollte, sondern im Namen von etwas Höherem. Dies ist eine wichtigste Tatsache, an die wir westliche Menschen uns erinnern müssen, wenn wir die Verweigerung von Chuang-tzu oder der späteren Zen-Meister verstehen wollen. 

Chuang-tzus tiefste Sorge war, dass das vom Staat geförderte kultivierte Pflichtgefühl, das organisierte Mitgefühl und die dogmatische Gerechtigkeit nicht tief genug gingen. Diese Tugenden produzierten zwar wohlerzogene, tüchtige Beamte und sogar kultivierte Menschen, aber sie machten aus ihnen Gefangenen von festgelegten äusseren Normen, die es ihnen verunmöglichten, spontan und wirklich frei im Leben zu stehen. 

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Auch die Konfuzianer liebten das Tao. So gesehen waren alle chinesischen Philosophen „Taoisten“, denn die Idee von Tao durchzieht in der einen oder anderen Form das gesamte chinesische Denken. Doch Chuang-tzu glaubte, dass das Tao, von dem Konfuzius sprach, nicht das „grosse Tao“ war, welches unsichtbar und unfassbar ist. Konfuzius mag Zugang gefunden haben zum „benennbaren Tao“, zur „Mutter aller Dinge“, nicht aber zum Tao, „welches nicht benannt werden kann.“ Konfuzius propagierte ein „Tao der Menschen“ oder ein „ethisches Tao“ – analog zur Goldenen Regel: „Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“.

In den Augen von Chuang-tzu führte dies in die Irre, weil das „ethische Tao“ zu einem abstrakten Prinzip wurde, das sich die Herrschenden beliebig nutzbar machten. Da gab es das „Tao der Vaterschaft“, das „Tao des Sohn-Seins“, das „Tao des Frau-Seins“, das „Tao des Minister-Seins“ usw. Alle diese „Tao“ verkamen zu Regeln, deren einziger Zweck es war, die gängigen Verhaltensformen, Ideen, Prinzipien und Methoden einer Zeitepoche zu kontrollieren und zu erhalten. 

Chuang-tzu bemerkte trocken, dass das ethische Tao illusorisch wird, wenn man glaubt, was gut sei für einen selbst, sei auch gut für andere, ohne dass man wirklich weiss, was gut für einen selbst ist. Er zeigte, dass das Glück prinzipiell keine Sache ist, die man erlangen kann, weder durch tugendhaftes Benehmen noch durch skrupelloses Ansammeln von Güter. Er sagte: Gibt es vollkommenes Glück auf der Welt oder gibt es das nicht? Gibt es eine Methode, um das Leben vollständig lebenswert zu machen oder ist dies unmöglich. Wenn ja, wie kann man ihn finden? Was soll man tun, was meiden? Was soll man annehmen, was ablehnen? Was soll man lieben, was hassen?“ 

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Was die Welt liebt, sind Geld, Ruhm, ein langes Leben, Erfolg. Zum Glück gehören körperliche Gesundheit, gutes Essen, schöne Kleider, gute Kunst, angenehme Musik. 

Was verteufelt wird, sind Geldmangel, ein tiefer sozialer Status, einen schlechten Ruf und einen frühen Tod. Als Unglück gilt körperliches Unbehagen und Mühe, Mangel an Nahrung, Kleidern, Vergnügungen, keine schöne Musik. 

Wenn die Menschen diese Glück bringenden Dinge nicht haben können, fallen sie in Panik und Verzweiflung. Sie sorgen sich so sehr um das Glück, dass ihnen das Leben unerträglich wird, selbst dann, wenn sie alles haben, was sie haben möchte. 

Die Reichen machen sich das Leben schwer, weil sie mehr und mehr Geld haben wollen, das sie gar nicht gebrauchen könne. So verlieren sie sich selbst und machen sich zu Sklaven anderer. Die Ehrgeizigen rennen Tag und Nacht dem Erfolg nach, dauernd in Sorge, ein Plan oder eine Berechnung könnte misslingen und alles zerstören. So verlieren sie sich selbst im Dienst der Gespenster, die sie mit ihren unersättlichen Hoffnungen erschaffen haben. 

Die Geburt des Menschen ist die Geburt seiner Sorgen. Je länger er lebt, umso stupider wird er. Er lebt für das, was ewig unerreichbar ist. 

Wie verhält es sich mit den selbstaufopfernden Beamten und Gelehrten? Sie werden von allen verehrt, weil sie gut, rechtschaffen und aufopfernd sind. Trotzdem schützt sie ihr guter Charakter nicht vor Unglück, nicht einmal vor Schande, schon gar nicht vor dem Tod. Könnte es sein, dass ihre „Güte“ sogar die Quelle ihres Unglücks ist? 

Nehmen wir an, sie seien glücklich. Doch ist es eine derart glückliche Sache, einen Charakter und eine Karriere zu haben, die letztlich zur Selbstzerstörung führen? Kann man andererseits jemanden als unglücklich bezeichnen, der sich selbst opfert, um das Leben und den Reichtum anderer zu retten? 

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Ich kann nicht sagen, ob das, was die Welt für Glück hält, Glück ist oder nicht. Das Einzige, was ich sehe, ist dass die Menschen dieses Glück mit grimmiger Miene verfolgen, besessen, dem menschlichen Herdentrieb verfallen, unfähig anzuhalten oder die Richtung zu ändern. Und die ganze Zeit erklären sie, das Glück sei gleich um die Ecke. 

Was mich anbetrifft, ich kann ihren Massstab für Glück nicht akzeptieren und frage mich, ob nicht das ganze Konzept von Glück bedeutungslos ist. Meiner Meinung nach kann man kein Glück finden, solange man nicht aufhört, danach zu suchen. Mein grösstes Glück besteht genau darin, absolut nichts zu tun, was Glück bringen soll. Und das ist für die meisten Menschen das Allerschlimmste. Für mich gilt: Vollkommenes Glück ist, ohne Glück zu sein. 

Wenn man mich fragt, was man tun und lassen soll, um Glück auf der Welt zu erzeugen, antworte ich, dass es auf diese Frage keine endgültige Antwort gibt. Solche Dinge kann man nicht kontrollieren. Wenn ich hingegen aufhöre, nach Glück zu streben, zeigt sich von selbst, was „richtig“ ist und was „falsch“. Zufriedenheit und Wohlergehen stellen sich in dem Augenblick ein, wo man sich nicht darum kümmert und das Nicht-Tun praktiziert. 

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Warum fällt der sich aufopfernde Mensch gemäss Chuang-tzu in dieselbe Falle wie der selbstzentrierte, vergnügungssüchtige Hedonist? Weil er das „Gute“ als ein Objekt betrachtet. Er bemüht sich bewusst und mit Absicht darum, seine Pflicht zu tun, im Glauben, dass dies das Gute sei, und mit Glück belohnt werde.

Er sieht das Gute und das Glück als zwei Dinge, die draussen in der Welt existieren, und die man durch richtige Taten erlangen kann. Dadurch wird er das Opfer einer geteilten Welt, aus der es keine Flucht gibt. Je mehr man „das Gute“ aussen sucht, umso mehr muss man sich damit beschäftigen, was „das Gute“ überhaupt ist; man muss seine Eigenschaften studieren, analysieren und definieren.

Dadurch verwickelt man sich in abstrakte Begriffe und in das Geflecht unterschiedlicher Meinungen. Je mehr man sich von der Wirklichkeit entfernt, desto abstrakter und unwirklich wird das Gesuchte. Schliesslich wendet man die ganze Zeit auf, herauszufinden, was denn das Gute sei, das man haben sollte, um glücklich zu sein. 

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Chuang-tzu erlaubte es sich selbst nicht, in diese Falle der Parteilichkeit zu fallen. Für ihn bestand der Weg des Tao darin, beim einfachen Guten anzufangen, mit dem jeder Mensch von Natur aus ausgestattet ist. Er sagte: „Wenn man sich selbst verbessern will, kommt man automatisch in Konflikt mit dem Tao. Was im Konflikt mit dem Tao ist, hat keine Dauer. Wer jedoch in Harmonie mit dem Tao lebt, dem zeigt sich richtig und falsch von selbst.“ Einer seiner Sprüche lautet: 

Fische werden im Wasser geboren, der Mensch im Tao. Wenn die im Wasser geborenen Fische im dunklen Schatten des Teiches bleiben, bekommen sie alles, was sie brauchen und sind zufrieden. 

Wenn der im Tao geborene Mensch sich in den dunklen Schatten von Nicht-Tun sinken lässt und seine Aggression und Sorgen vergisst, fehlt ihm nichts. Sein Leben ist sicher. 

Moral: Alles, was der Fisch zu tun hat, ist, sich im Wasser zu verlieren. Alles, was der Mensch zu tun hat, ist sich im Tao zu verlieren

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Für Chuang-tzu ist der wahrhaftig grosse Mensch nicht einer, der ein Leben lang Rechtschaffenheit und nutzbringende Methoden studiert und praktiziert, sondern derjenige, in welchem Tao ohne Hindernis wirkt. Dies ist ein „Mensch des Tao“. Er sagte: 

Der Mensch, in welchem Tao ungehindert wirkt, schadet keinem Wesen durch sein Tun. Doch er weiss nichts von „freundlich“ oder „sanft“. 

Der Mensch, in welchem Tao ungehindert wirkt, kümmert sich nicht um seinen eigenen Vorteil und verachtet diejenigen nicht, die es tun. Er strengt sich nicht an, Geld zu verdienen und macht aus Armut keine Tugend. Er geht seines Weges ohne sich auf andere zu verlassen und ist nicht stolz darauf, unabhängig zu sein. Während er selber nicht der Menge folgt, beklagt er sich nicht über diejenigen, die es tun. Rang und Lohn reizen ihn nicht, Schande und Scham schrecken ihn nicht ab. Er schaut nicht immer auf richtig und falsch, und sagt nicht dauernd „Ja“ oder „Nein“. 

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Deshalb sagten die Alten: 

Der Mensch des Tao bleibt unbekannt.
Vollkommene Tugend erzeugt nichts.
Nicht-Selbst ist wahres Selbst. 
Der grösste Mensch ist niemand.

Der „Mensch des Tao“ zieht es vor, im Dunkeln und in Abgeschiedenheit zu weilen“: Doch Chuang-tzu war kein professioneller Eremit. Er verfolgte kein spezifisches Programm zur geistigen Reinigung und zur Kultivierung des Innenlebens.

Ein Leben der absichtsvollen Kontemplation, das einen Menschen nur selbstbezogener macht und ihm erlaubt, sich ausschließlich mit dem eigenen Inneren zu beschäftigen, wäre für Chuang-tzu ebenso illusorisch wie das geschäftige Leben eines Wohltäters, der versucht, anderen seine eigene Überzeugung vom Guten aufzuzwingen, und diejenigen, die nicht mit ihm einverstanden sind zu „Feinden seiner eigenen Güte“ macht. Der wahre „Mensch des Tao“ findet Frieden jenseits von Tun und Nicht-Tun. 

Richtig verstanden, bedeutet Wu-Wei nicht bloße Inaktivität, sondern perfektes Tun. Es ist ein Tun in Übereinstimmung mit Himmel und Erde, nicht im Streit, sondern in Harmonie mit der Dynamik des Ganzen. Es ist frei, weil es nicht bedingt oder begrenzt ist durch individuelle Wünsche und Bedürfnisse, Theorien und Ideale. 

Gemäss Chuang-tzu ist dieses freie Tun nur möglich, wenn man sich vom „Zwang zum Gewinnen“ befreit. Im „Zwang zum Gewinnen“ erkennt Chuang-tzu eine enorme Selbstschwächung: 

Wenn ein Bogenschütze um nichts schiesst, ist er im vollen Besitz seines Könnens. Wenn er um eine Messingschnalle schiesst. ist er bereits nervös. Wenn er um einen Preis aus Gold schiesst, sieht er gar nichts oder zwei Zielscheiben zugleich. Er verliert den Verstand! Sein Können hat sich nicht verändert, aber der Preis teilt ihn entzwei. Er ist befangen. Er denkt mehr an den Preis als an das Schiessen. Der Zwang zum Gewinnen raubt ihm die Kraft. 

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An einer anderen Stelle zeigt Chuang-tzu, wie verheerend es sein kann, wenn man seine eigene Schlauheit und Virtuosität zur Schau stellt: 

Der Prinz von Wu nahm ein Boot zum Affenberg. Sobald die Affen ihn kommen sahen, flohen alle in Panik und versteckten sich in den Baumwipfeln. Nur einer blieb vollkommen unbekümmert; er schwang sich für alle sichtbar von Ast zu Ast und machte viele Kapriolen. Der Prinz schoss einen Pfeil auf ihn ab, doch der Affe fing ihn geschickt aus der Luft auf. Darauf befahl der Prinz seinen Gefolgsleuten, eine ganz Salve von Pfeilen abzuschiessen, worauf der Affe sofort tot zu Boden fiel.

Der König wandte sich an seinen Gefährten und sagte: „Siehst du, was da vor sich ging? Das Tier stellte seine Schlauheit zur Schau. Es verliess sich ganz auf seine Besonderheit und dachte, niemand könne ihm etwas anhaben. Merke dir: Verlasse dich nie auf Besonderheit und Talent, wenn du es mit Menschen zu tun hast.“ 

Da machte sich Yen Pu’i zum Schüler eines Weisen. Er lernte, alles zu verlernen, was ihn hervorragend machte, und jegliche „Besonderheit“ zu verbergen. 

Bald wussten im ganzen Königreich keiner mehr, was man von ihm halten sollte. Und so bewunderte man ihn. 

Mit dieser Parabel zeigt Chuang-tzu seinen „Mittleren Weg“ zwischen Qualitäten haben und keine Qualitäten haben. Der springende Punkt ist es, seine Qualitäten so zu haben, als hätte man keine. Das ist nur möglich, wenn man seine Fähigkeiten nicht als persönliches Verdienst, sondern als Eigenschaft des Tao betrachtet. So kann man in der Gemeinschaft positiv wirken, ohne als Urheber, ohne als „gut“ zu gelten. 

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Diese von Chuang-tzu sowie von Lao-tzu gepredigte Bescheidenheit ist nicht die bewusste Bescheidenheit, die auf Anerkennung aus ist, sondern eine Art „kosmische“ Bescheidenheit. Sie haftet einem Menschen an, der sich der eigenen Nichtigkeit voll bewusst ist und sich selbst vollkommen vergisst: Er ist „wie ein trockener Baumstumpf‘, wie „tote Asche“. Man kann diese Bescheidenheit „kosmisch“ nennen, weil sie mit der Natur aller Dinge übereinstimmt, und voller Leben und Wachheit und mit grenzenloser Vitalität und Freude auf alle Lebenserscheinungen antwortet. Im folgenden singt Chuang-tzu ein Freudenlied über die wunderbare Wirkungskraft des Tao: 

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Mein Meister sagte: Tao, wie tief, wie still ist sein Versteck! Tao, wie rein! Ohne diese Stille würde Metall nicht klingen; ein angeschlagener Stein würde nicht antworten. Die Kraft des Klanges ist im Metall und Tao in allen Dingen. Wenn sie zusammenstossen, bringen sie Tao zum Klingen und sind dann wieder still. 

Der König des Lebens geht frei seines Weges. Er würde sich schämen, geschäftig zu sein. Seine Wurzeln ragen tief in den Ursprung, tief in die Quelle. Sein Wissen ist im Geist geborgen und er wächst zu Grösse. Sein Herz öffnet sich weit, eine Zufluchtsstätte für die ganze Welt. Ohne zu planen kommt er heraus in Würde, ohne zu planen geht er seinen Weg, und alle folgen ihm. 

So ist der königliche Mensch, der über dem Leben reitet: Er sieht im Dunkeln, hört, wo es keine Geräusche gibt. Er allein sieht in tiefster Dunkelheit Licht. Er allein hört im Klanglosen Musik. Er kann die niedrigsten aller niedrigen Orte besuchen und Menschen finden. Er kann auf der höchsten aller Höhen stehen und Sinn finden. Er ist mit allen Wesen verbunden. Das, was nicht ist, geht mit ihm. Auf dem, was sich unaufhörlich bewegt, steht er still. Gross ist ihm klein, lang ist ihm kurz, und alles Feme ist ihm nah. 

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Was den Menschen des Tao als solchen charakterisiert, ist seine Naturverbundenheit. Die Hälfte aller Gestalten, die uns Chuang-tzu zur Illustration seines Anliegens vor Augen führt, sind Tiere, Vögel, Fische, Frösche usw. Sein Taoismus zeichnet die ursprüngliche Welt des Paradieses, in welchem noch keine Aufteilung vorhanden war, in welcher der Mensch, noch nicht selbstbewusst im Frieden mit sich selbst, mit Tao und mit anderen Wesen lebte.

Aber für Chuang-tzu ist dieses Paradies nicht etwas, das unwiderruflich durch einen Sündenfall verloren ging, und das nur durch Erlösung wieder erlangt werden kann. Es ist immer noch unser, doch wir wissen es nicht, weil das Leben in unserer Zivilisation so kompliziert geworden ist, dass wir vergessen haben, wer wir wirklich sind. Doch statt uns wieder am ursprünglichen Tao zu orientieren, entfernen wir uns davon durch das vergebliche Bemühen um Selbstverbesserung. 

Schlussfolgerung: Chuang-tzus paradoxe Lehre, dass man niemals Glück finden wird, bis man aufhört, danach zu suchen, dass man den Zwang zum Gewinn aufgeben soll und das Nicht-Handeln die beste Art des Handelns ist, darf nicht negativ interpretiert werden. Er predigt nicht den Rückzug aus einem vollen, aktiven, menschlichen Leben in stille Untätigkeit. Er sagt, dass Glück durchaus zu finden ist, aber nicht als die Frucht eines bestimmten Programms oder Denksystems. Jedes System hat die Tendenz, andere Möglichkeiten auszuschliessen und wirkt deshalb auf die Dauer destruktiv. Freiheit und das Glück sind überall zu finden, da Tao überall ist. 



Das Tao des Atems, Ch’i 

Der Schlüssel zur Welt von Chuang-tzu und seinen Gesinnungsgenossen ist das Prinzip der „Übergegensätzlichkeit der Gegensätze“. Wenn man versteht, dass das Tao jegliches „Ja“ und „Nein“ , „Ich“ und“ Nicht-Ich“ durchdringt, versteht man, dass die Gegensätze nicht wirklich existieren. Das Leben ist ein ständiger Fluss, es kennt keine Unterscheidung in gut und schlecht. Was heute gut und angenehm ist, mag morgen schlecht und nicht auszuhalten sein.

Was heute unmöglich ist, mag morgen plötzlich möglich sein. Was richtig scheint vom einen Standpunkt aus, mag, von einem anderen Aspekt aus gesehen, völlig falsch sein. Wer dies versteht, kann Ja und Nein in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Bedingtheit sehen und ist offen für die Entfaltung des Augenblicks. Das ist wahrhaftige Unbekümmertheit wie die Taoisten sie sehen: 

Der zahnlose Nieh Ch’ueh suchte P’i auf und bat um eine Lektion über das Tao. 

P’i begann: „Zuerst gewinne Kontrolle über den Körper und alle Organe. Dann kontrolliere den Geist. Weile in vollkommener Konzentration auf einen Punkt. Dann senkt sich der Friede des Himmel herab und tritt in dich ein. Du wirst voller Leben stahlen, du wirst im Tao ruhen, du wirst den unbedarften Blick eine neugeborenen Kalbes haben. Oh, du Glückspilz, du wirst die Ursache deines Zustandes nie wissen.“

Doch lang bevor P’i in seiner Predigt so weit gekommen war, fiel der Zahnlose in tiefen Schlaf. Sein Geist konnte einfach nicht ins Fleisch dieser Doktrin beissen. Aber P’i war es zufrieden. Er ging weg und sang: 

„Sein Körper ist trocken, wie ein alter Knochen. 

Sein Geist ist tot, wie tote Asche: 

Sein Wissen ist fest, seine Weisheit ist echt! 

In dunkler Nacht wandert er frei, ohne Ziel und ohne Plan: 

Wer kann sich mit diesem zahnlosen Mann messen?“

°°°

Gemäss der taoistischen Auffassung beruht alles Leben auf der Urenergie Ch’i. Wörtlich kann Ch’i übersetzt werden als „Luft, Hauch, Dampf, Äther, Energie.“ Es steht auch für die Lebenskraft oder den kosmischen Geist, der alle Dinge durchdringt und belebt 

Im Zusammenhang mit der Atmung hat das Wort Ch’i zwei Aspekte. Einerseits steht es für die Luft, welche durch Nase und Lunge eingeatmet wird und für den Akt des Ein-und Ausatmens; andererseits steht es für die transformative Kraft des Atems als Wärme, durch welche z.B. Flüssigkeit zu Dampf wird. Diesen beiden Aspekten der Atmung entsprechend unterscheiden die Taoisten zwischen äusserem Ch’i und innerem Ch’i. Das innere Ch’i spielte vor allem in der taoistischen Alchemie eine zentrale Rolle als Mittel zur inneren Wandlung und zum Erreichen von Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit. 

Auch die taoistische Meditationspraxis macht sich das innere Ch’i zu Nutzen. Durch bewusste Lenkung des Atems und der Vorstellungskraft wird das Ch’i gereinigt, gesammelt und durch die geistigen Zentren des Körpers geleitet. Das Ziel dieser Meditation ist es, den Geist vollkommen zur Ruhe zu bringen und sich selbst völlig zu vergessen. In dieser stillen Selbstvergessenheit, kann es zur sogenannten „Erfahrung der Goldenen Blüte“ kommen. Die „Goldene Blüte“ ist ein taoistisches Sinnbild für das „Licht des reinen Yang, das im Dunkeln des reinen Yin scheint“. Mit diesen Metaphern umschrieben die alten Chinesen die letztlich unsagbare Meditationserfahrung, die auch als „Rückkehr zum Ursprung“ bezeichnet wird.

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Man darf vermuten, dass es sich bei dieser „Rückkehr zum Ursprung“ um dasselbe archetypische Erleben handelt, wie bei der buddhistischen „Erleuchtung“ oder beim „Satori“ des Zen. Es ist charakterisiert durch eine Art „Schauen des wahren Wesens“. Man darf diese Erfahrung als archetypisch bezeichnen, da sie von vielen Menschen verschiedener Kulturen und Zeiten berichtet wird. Egal, ob es sich um Taoisten, Buddhisten oder westliche Mystiker handelt, sie alle sprechen in der einen oder anderen Form vom „reinen Licht“ und von der „reinen Liebe“, die sich aus der tiefsten Dunkelheit offenbaren. Um die selbstvergessene Versenkung zu verwirklichen, braucht es in der Regel jahrelange Übungen und Meditationen, welche die Taoisten nur im direkten Kontakt von Meister zu Schüler erklärten. 

In der Methodik der taoistischen Meditation verbindet sich das Konzept von innerem und äusserem Ch’i mit dem Konzept der pränatalen und postnatalen Atmung. Die grundlegende Idee besagt, dass die vorgeburtliche Atmung des Kindes von Nase und Lunge unabhängig ist. Das aus dem mütterlichen Blutkreislauf stammende, sauerstoffreiche Blut tritt durch den Nabel des Kindes und zirkuliert im Körper. Nach der Geburt, wenn die Nabelschnur durchschnitten ist, übernehmen die Atemorgane des Kindes ihre Funktion, und die Bauchatmung wird vergessen.

In der Auffassung der Taoisten geht sie aber nicht verloren. Zwar atmen die meisten Menschen ihr Leben lang nur mit der Nase und der Lunge, doch wenn es darum geht, Ch’i zu aktivieren, um den ruhenden Pol in der innersten Mitte zu finden, greifen die Taoisten auf die pränatale Atmung zurück. Die pränatale Atmung findet im Unterleib statt. „Rückkehr zum Ursprung“ bedeutet in diesem Fall auch die Vereinigung von postnataler und pränataler Atmung. 

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Bei erfahrenen Meistern gibt es in den weit fortgeschrittenen Meditationsstadien keine Atmung mehr durch Nase und Lunge, auch kein Puls ist zu fühlen und jegliches bewusstes Denken ist verlöscht Die „Grosse Stille“ ist erreicht. Dieselbe Erfahrung ist auch den Meistern des Yoga und der buddhistischen Meditation bekannt. 

Obwohl es äusserst schwierig ist, eine derart intime Sache wie das Atmen in Worte zu fassen, sei im folgenden ein Versuch gewagt, die taoistische Technik der Bauchatmung zu beschreiben. Doch es kann nur die rudimentäre Grundlage beschrieben werden, in der Praxis kennen die Meister zahlreiche Abwandlungen und Ergänzungen.

Die grundlegenden taoistischen Atemübungen können im Stehen, Sitzen, Gehen oder Liegen durchgeführt werden. Die folgende Beschreibung betrifft die Sitzhaltung: 

Vorbereitung

Man suche sich einen ruhigen, sauberen Ort, ziehe lose Kleidung an und setze sich auf einen festen Stuhl oder auf ein festes Kissen auf den Boden. Bei der Körperhaltung sind folgende Punkte zu beachten: Die Wirbelsäule ist aufrecht. der Kopf zentriert, die Schultern und Arme entspannt, letztere leicht gebeugt in den Ellbogen. Die Hände liegen im Schoss. Die Augen sind weder ganz offen noch ganz zu, die Lippen leicht geschlossen. Motto: Nicht zu steif, nicht zu schlaff. 

Mindestens so wichtig wie die Körperhaltung ist die innere, geistige Haltung. Dafür gelten folgende Anweisungen: Es ist nicht zu erwarten, dass die inneren Vorgänge wie Gedanken und Sinneswahrnehmung oder die inneren Bilder verschwinden. Man soll sich nicht anstrengen, sie „abzustellen“; besser ist es, die Aufmerksamkeit davon abzulenken und auf den Atem zu richten. Ungeduld, Erwartungen sowie Selbstkritik sind hinderlich und sollen deshalb unterbunden werden. Motto: Sei wach, nicht zu verspannt, nicht zu locker. 

Atmung

Noch wichtiger als die Körperhaltung und die innere Haltung ist die richtige Art des Atmens. Zu Beginn mache man einige kräftige Atemzüge durch den Mund, um alle verbrauchte Luft aus den Lungen zu entfernen. Traditionelle taoistische Schriften empfehlen, sechs Mal ein- und auszuatmen. Nach dieser Vorübung atme man normal durch die Nase ein und aus: ruhig und langsam, ohne ein Geräusch zu verursachen. 

Dann richte man die Aufmerksamkeit auf das innere Zentrum etwas 3 cm unterhalb des Nabels, welches als (unteres) Tant’ien, Hara oder Manipura-Chakra bekannt ist. Dieses Zentrum gilt als der ursprüngliche Sitz des Ch’i. Nun atme man langsam vollständig ein. Dabei hebt die innere Atmung und die Konzentration des Geistes das Ch’i vom Tant’iem zum Solarplexus empor. Der dem Herz naheliegende Solarplexus gilt als „Sitz des Feuers“. Als nächstes atme man langsam und vollständig aus. Bei der Ausatmung führt die äussere Atmung zusammen mit der Konzentration des Geistes das Ch’i vom Solarplexus in den untersten Bereich des Unterleibes. Dort, in der Nachbarschaft der Nieren, befindet sich der „Sitz des Wassers“. 

Das mehrmalige Auf- und Abbewegen des Ch’i zwischen Abdomen und Solarplexus heisst „kleinere himmlische Zirkulation“. 

Diese wird auch beschrieben als die Vereinigung von Feuer und Wasser. (An dieser Stelle ist es vielleicht interessant zu bemerken, dass sowohl die taoistischen als auch die buddhistischen Schriften manchmal davon sprechen, der Mensch müsse, um heil zu sein, zweimal geboren werden, einmal materiell aus dem Mutterleib, das zweite Mal geistig aus „Wasser und Feuer“. Jesus sprach von der zweiten Geburt als der Geburt aus „Wasser und Geist“.) 

°°°

Die „kleine Zirkulation“ dient der Reinigung und Verfeinerung des Ch’i. Sie ist auch Vorbereitung für den nächsten Schritt, welcher in der „grossen himmlischen Zirkulation“ besteht. Die Taoisten unterscheiden acht feinstoflliche Kanäle und zwölf psychische Zentren, die in „grossen Zirkulation“ alle eingeschlossen sind. Da die korrekte Praxis dieser Atemform traditionell nur im direkten Kontakt mit einem Meister gelehrt wird, sei auf eine Beschreibung hier verzichtet. 

Wenn es um Erklärungen oder um den philosophischen Hintergrund ihrer Atemtechniken geht, berufen sich alle taoistischen Meister auf ‚Lao-tzu, Chuang-tzu und das l-Ching, Die Grundlage bildet immer die Beobachtung der Natur und das Bestreben, es dieser gleichzutun. So sprechen die Taoisten bei der Atmung von „himmlischen“ Zyklen, weil sie die vom Ch’i aufrechterhaltene energetische Wechselwirkung von Yin und Yang mit den Bewegungen der Gestirne in Verbindung bringen. Der „kleine“ Zyklus bezieht sich auf die tägliche Bewegung von Sonne und Mond, der „grosse“ Zyklus auf das ganze Himmelsgeschehen während eines Jahres. 

In der taoistischen Medizin werden die Atemtechniken zur Prävention oder zur Heilung von Krankheiten ausgeführt. Auch westliche Ärzte beginnen mehr und mehr, den positiven Effekt einer tiefen Atmung auf die Gesundheit zu verstehen und zu fördern. 

Da richtig geleitetes Ch’i fast übermenschliche Kräfte erzeugt, wurden die Taoisten durch die Verbindung von Meditation und Atemtechnik auch Meister in der Kunst der Selbstverteidigung. Tai Chi Chuan, Chi Qung und Kung-fu sind nur einige Beispiele von Methoden, die auch in der westlichen Welt Einzug gehalten haben. 



Streit der Urmächte

Die Willenskraft sagte zum Schicksal: „Deine Wirkungen sind den meinigen weit unterlegen.“ Das Schicksal sprach:“ Was kannst denn du, dass du dich mit mir vergleichen willst? Die Willenskraft sprach: „Langes und kurzes Leben, Erfolg und Misserfolg, Ehre und Schmach, Armut und Reichtum: das alles steht in meiner Macht.“ 

Das Schicksal sagte:“ Der Grossvater Peng war nicht weiser als der heilige Herrscher Yau und wurde doch achthundert Jahre alt. Der Lieblingsschüler von Kung war nicht weniger begabt als andere und musste doch mit zweiunddreissig Jahren sterben. Kungs Geisteskraft war nicht geringer als die der Fürsten zu seiner Zeit, und doch kam er in Not. Der Lebenswandel des Tyrannen Dschou war nicht besser als der der drei Vollkommenen zu seiner Zeit, und doch sass er auf dem Herscherthron.

Der würdige Gi Dscha wurde nicht mit dem Wu-Gebiet belehnt, doch der Mörder Heng kam in den Besitz der Alleinherrschaft im Staate Tsi. Die unbeugsamen Brüder Be und Schu verhungerten, die böse Familie Gi ward reicher als alle anderen. Die unbeugsamen guten Brüder Be und Tsi verhungerten am SchouYang-Berg, die böse Familie Gi ward reicher als Dschan Kin. 

°°°

Wenn das alles durch dein Vermögen gekommen ist, o Willenskraft, warum gabst du gerade jenem so langes Leben und diesem so kurzes? Warum gabst du dem Heiligen Misserfolg und dem Sünder Erfolg? Warum machtest du den Würdigen niedrig und den Narren geehrt, die Guten arm und die Bösen reich?“ 

Die Willenkraft sagte: „Wenn es so ist, wie du sagst, dann habe ich allerdings keine Wirkung auf die Natur. Dass sich die Natur so verhält. ist dann also dein Werk?“ 

Das Schicksal sprach: „Wenn ich doch Schicksal heisse, wie kann da noch von ‚machen‘ die Rede sein? Hohes Alter, das aus sich selbst kommt; frühes Sterben, das aus sich selbst kommt; Erfolg und Misserfolg, Ehre und Schmach, dies aus sich selbst kommen: die kann ich auch nicht kennen.“ 

Lie-Tzu



Taoismus und Zen – Buddhismus

Historisch gesehen entwickelten sich die verschiedenen Schulen des Taoismus in China Seite an Seite mit dem Konfuzianismus. Obwohl die Taoisten oft zum Konfuzianismus in Opposition waren, bestand eine fruchtbare gegenseitige Beeinflussung. Ab dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung fasste auch der Buddhismus in China Fuss. Letzterer erlebte im vierten Jahrhundert eine Hochblüte. Fast sah es aus, als würde die vom indischen philosophischen Denken geprägte buddhistischen Lehre die von Magie und Riten geprägte, naturalistische Volksreligion verdrängen. Doch im Laufe der Zeit wurde der orthodoxe Buddhismus mehr und mehr eine Sache der gebildeten Elite und konzentrierte sich auf die Regierungszentren.

Als Gegenbewegung zu dieser Verstaatlichung bildeten sich fast unbemerkt kleine Zellen und Gemeinschaften, die einen neuen Weg einschlugen. Statt philosophischreligiöse Debatten zu führen und um möglichst hohe Anhängerzahlen zu buhlen, zogen sich einige Menschen aus den Städten zurück und besannen sich auf die alten Werte ihrer angestammten Weltanschauung. So kam es zur Verschmelzung von taoistischen und buddhistischen Elementen, welche um das achte Jahrhundert u.Z. schliesslich zu einer eigenen buddhistischen Richtung führte mit dem Namen Ch’an-Buddhismus. Wie der Name sagt, betonte diese Schule die Meditation. 

°°°

Das aus der Heirat des chinesischen Taoismus mit dem indischen Buddhismus entsprungene Kind namens Ch’an erreichte seine Blüte in der Tang-Dynastie (618-907). Seine Nachkommen verbreiten sich in bis zum heutigen Tag in der ganzen Welt. Seine im Westen besser bekannte japanische Schwester hat den Namen Zen. Obwohl der Taoismus in allen Lebensbereichen Chinas Spuren hinterliess, seine eigentlichen Erben sind die Ch’an- bzw. Zen-Buddhisten. Dies lässt sich an einigen Grundsätzen und Lehrinhalten, welche dem Taoismus und dem Zen gemeinsam sind, leicht belegen: 

  • Das durch Meditation und Versenkung erreichte Wissen gilt mehr als rein theoretisches, konzeptuelles Wissen. 
  • Der Weg, Tao (jap. Do), führt zu einem intuitiven Erkennen, zur „Sicht in die Urnatur“ bzw. zum „Erwachen zur eigenen Buddhanatur.“ Denken und Nachsinnen führen nicht zum Ziel. 
  • Identische Bedeutung des taoistischen Begriffs Tao und des buddhistischen Begriffs Dharma als übergegensätzliches Prinzip. Beide werden auch als „Gesetz“ und „Lehre“ verstanden. In der Sprache der Sinnbildlichkeit erhalten sie das Prädikat „dunkel“.  
  • Das Prinzip der Leere: Die Urnatur aller Dinge, das Tao, ist Leere (Skrt. Shūnyatā, jap. Ku). Sie ist ohne Eigenschaften, nicht erfassbar, nicht in Worten auszudrücken. Es ist aber keine tote Leere, sondern schöpferische Leere, von der alle Existenzformen durchdrungen werden. 
  • Die Beherrschung der Atmung gilt nicht nur als Schlüssel zur körperlichen und geistigen Gesundheit, sie ist das Vehikel, das von der diesseitigen Welt der Gegensätze zur „jenseitigen“ Welt der Übergegensätzlichkeit führt. 
  • Das Wissen um den subtilen Aspekt der Atmung als Ch’i bzw. Prana. 
  • Das Prinzip des Handelns ohne zu handeln (chin. Wu-Wei,) bzw. des Handelns ohne Absicht und ohne an Gewinn zu denken. (jap, Mushotoku ). 
  • Betonung der einfachen Lebensweise in ländlicher Umgebung. Trotzdem aktive Teilnahme am Leben. 

°°°

Diese Prinzipien spiegeln sich auch in den folgenden drei Beispielen aus den Lehren des Zen, Taoismus und Buddhismus: 

Joshu fragte einmal seinen Lehrer Nansen: 

„Was ist Tao?“ Nansen antwortete: „Tao ist der alltägliche Geist“. Joshu fragte: „Soll man danach suchen oder nicht?“ Nansen antwortete: „Wenn du danach suchst, entfernst du dich davon.“ „Wie kann ich dann den Weg kennen, wenn ich ihn nicht suche?“ fragte Joshu. Nansen erwiderte: „Der Weg hat nichts zu tun mit Wissen und Nicht-Wissen. Wissen ist Illusion, Nicht-Wissen ist tote Leere. Wenn du wirklich das Tao des Nicht-Zweifelns gefunden hast, so ist es gleich der unermesslichen, grenzenlosen Leere des Alls. Wie kann man da von richtig und falsch sprechen?“ Bei diesen Worten kam Joshu plötzlich zur Einsicht. 

(Koan-Sammlung Mumonkan, Fall 19)

Der Herr der gelben Erde wanderte ans Ende der Welt und schaute sich um. Auf dem Heimweg verlor er seine nachtfarbene Perle. Er schickte Erkenntnis aus, um seine Perle zu suchen und bekam nichts. Er schickte Analyse aus, um seine Perle zu finden und bekam nichts. Er schickte Logik auf die Suche nach seiner Perle, und bekam nichts. Schliesslich fragte er das Nichts“ und das Nichts hatte sie! Der Herr der gelben Erde sagte: „Wie merkwürdig: Das Nichts habe ich nicht auf die Suche geschickt und es hatte die nachtfarbene Perle, ohne dafür etwas zu tun.“ 

(Chuang-tzu: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland) 



Das Tao von Lao – Tzu

Das ursprüngliche Konzept von Tao kann am besten an Hand einiger ausgewählter Beispiele aus dem Tao te King erspürt werden. Die fettgedruckten Sätze sind als Einleitung gedacht, sie gehören nicht zu Lao-tzus Text. Die deutsche Übertragung ist frei, in Anlehnung an diverse Vorlagen (s. S. 12). Die Nummern am Ende der Verse kennzeichnet die Versnummer im Original.

Tao ist das unbenennbare, unfassbare Eine, dem alles entspringt:

Das Tao, das sich aussprechen lässt, ist nicht das ewige Tao.
Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name.
Das Namenlose ist der Ursprung von Himmel und Erde.
Das Benennbare ist die Mutter der zehntausend Dinge.
Darum: Ohne Begehren nach innen blickend,
kann man das Geheimnis sehen.
Besirzergreifend und benennend sieht man
nur die äussere Begrenztheit der Erscheinungsformen.
Im Ursprung ist beides eins,
verschieden nur dem Namen nach.
Diese Einheit ist unbegreifbar,
das Geheimnis aller Geheimnisse,
das Tor, durch das sich alle Wunder offenbaren. ( 1)

Tao ist das Absolute, die schöpferische Energie, die Himmel und Erde entstehen lässt Himmel und Erde bringen die „zehntausend Dinge“ hervor:

Der Geist des Tales stirbt niemals, der dunkle Urmutterschoss,
dem Himmel und Erde entspringen. Im Ruhen ohne Unterlass
wirkt er ohne Mühe. (2)

Das Tao erzeugt die Eins, die Eins erzeugt die Zwei, die Zwei erzeugt die Drei,
aus der Drei entstehen die zehntausend Dinge. Alle Dinge tragen in sich das dunkle Yang
und das helle Yin, deren strömende
Kraft für Einklang sorgt. (42)

Tao ist nicht parteiisch; es kennt weder gut noch schlecht:

Himmel und Erde sind nicht gütig,
die Geschöpfe sind ihnen wie Puppen aus Stroh. Die Weisen sind ebenfalls nicht gütig,
die Menschen sind ihnen wie Puppen aus Stroh.
Der offene Raum zwischen Himmel und Erde gleicht einem Blasebalg,
je mehr er sich bewegt,
umso mehr bringt er hervor.
Doch die vielen Worte bringen nichts,
besser ist es,
schweigend das Innere zu wahren. (5)

Tao ruht in sich selbst; es ist Ursprung und Ziel aller Dinge:

Es ist jenseits von sichtbar,
jenseits von hörbar,
jenseits von greifbar.
Es ist unergründlich eines.
Von oben ist es nicht hell,
von unten ist es nicht dunkel,
ohne Anfang und Ende
reicht es ins Nichtsein zurück.
Ruhe im uralten Tao,
dann kannst du, den Ursprung kennend
mit der Gegenwart mitfliessen. (14)

<p class="eplus-bXEqqd eplus-wrapper" id="Es ist jenseits von sichtbar <br>jenseits von hörbar <br>jenseits von greifbar <br>es ist unergründlich-eines-von-oben-ist-es-nicht-hell <br>von-unten-ist-es-nicht-dunkel <br>ohne Anfang und Ende<br>reicht es ins Nichtsein zurück.<br>Ruhe im uralten Tao,<br>dann kannst du, den Ursprung kennend<br>mit
Der Mensch richtet sich nach der Erde.
Die Erde richtet sich nach dem Himmel.
Der Himmel richtet sich nach dem Tao.
Das Tao richtet sich nach sich selbst. (25)

<p class="eplus-gWZ42j eplus-wrapper" id="Es ist jenseits von sichtbar <br>jenseits von hörbar <br>jenseits von greifbar <br>es ist unergründlich-eines-von-oben-ist-es-nicht-hell <br>von-unten-ist-es-nicht-dunkel <br>ohne Anfang und Ende<br>reicht es ins Nichtsein zurück.<br>Ruhe im uralten Tao,<br>dann kannst du, den Ursprung kennend<br>mit
Rückkehr ist die Bewegung des Tao.
Nachgeben seine Weise.
Die zehntausend Dinge entstehen im Sein.
Sein entsteht im Nichtsein. (40)

Tao manifestiert sieb durch Te. Te wirkt durch Weichheit, Schlichtheit und Einfachheit. So verleibt Tao allem Leben Dauerhaftigkeit:

Wer vom Te erfüllt wird,
gleicht einem neugeborenen Kind.
Insekten stechen und Schlangen beissen es nicht,
reissende Tiere und Raubvögel packen es nicht.
Seine Knochen sind weich, seine Muskeln schwach,
und doch ist sein Griff fest.
Es kann den ganzen Tag schreien und wird nicht heiser.
Der kleine Knabe weiss noch nichts von Mann und Frau,
und doch regt sich sein Glied voller Samenkraft.
Dies ist vollendeter Einklang mit dem Tao.
Im Einklang sein bedeutet unvergänglich sein,
unvergänglich sein bedeutet erleuchtet sein.
Es ist nicht klug, voller Begehren umherzuhasten.
Die Kräfte zu vergeuden bringt Erschöpfung.
Dies ist nicht im Einklang mit dem Tao.
Was nicht im Einklang mit dem Tao ist, hat keine Dauer. (55)

Was im Einklang mit dem Tao ist, stirbt nicht:

Der Mensch kommt zart und nachgiebig zur Welt,
wenn er stirbt ist er hart und starr.
Junge Pflanzen sind zart und biegsam,
wenn sie sterben sind sie dürr und hart.
Darum ist das Starre und Unbeugsame in der Gefolgschaft des Todes,
das Weiche und Sanfte in der Gefolgschaft des Lebens.
Das Harte und Starke wird vergehen.
Das Weiche und Schwache wird dauern. (76)

Die Gesetze von Tao und Te sollen dem Menschen Vorbild für das eigene Handeln sein. Handeln in Übereinstimmung mit dem Tao ist Nicht-Handeln (Wu-Wei):
<p class="eplus-dhSA6r eplus-wrapper" id="Das Allerweichste auf erden Überwindet das Allerhärteste auf Erden.<br>Das Nichtseiende dringt auch noch ein in das, <br>was keinen Zwischenraum hat<br>So wertvoll ist Nicht-Tun<br>Lehren ohne Worte,<br>Wirken ohne Tun,
Das Allerweichste auf Erden Überwinder das Allerhärteste auf Erden.
Das Nichtseiende dringt auch noch ein in das, was keinen Zwischenraum hat.
So wertvoll ist Nicht-Tun.
Lehren ohne Worte, Wirken ohne Tun,
dies verstehen nur sehr wenige auf der Welt. (43)

°°°

Übe Nicht-Handeln, wirke ohne Tun.
Schmecke das Geschmacklose.
Lass das Kleine gross werden
und das Wenige mehr.
Vergelte Groll mit Nachgiebigkeit (Te).
Alles Schwere beginnt leicht.
Alles Grosse beginnt klein.
Der Weise strebe nicht nach dem Grossen und erreicht es.
Wer viel verspricht, kann wenig halten.
Leichtfertigkeit bringt Schwierigkeit.
Der Weise bedenkt die Schwierigkeiten und so werden sie ihm leicht. (63)

°°°

Tao macht nicht und doch bleibt nichts ungetan.
Würden die Herrschenden es so halten,
würde sich alles seiner Natur gemäss entfalten.
Begehren und Machenwollen werden durch begrifflose Schlichtheit gebannt.
Einfachheit bewirkt Wunschlosigkeit,
Wunschlosigkeit bewirkt Geistesfrieden.
So kommt die Welt von selbst in Ordnung. (37)

Durch das Beobachten des Tao kommt der Geist zur Ruhe, durch die Bewahrung der inneren Ruhe findet man den Weg:

Entleere deinen Geist vollständig,
weile gelassen in vollkommener Ruhe.
Dann siehst du Entstehen und Vergehen der zehntausend Dinge.
Ein jedes kehrt zu seiner Wurzel zurück.
Rückkehr zur Wurzel heisst Stille.
Dies ist der Weg der Natur.
Der Weg der Natur ist zeitlos.
Das Zeitlose zu kennen, bedeutet Einsicht.
Es nicht zu kennen, bedeutet Wirrnis und Unheil.
Im Wissen um das Ewige sind Geist und Herz offen.
Offenheit führt zu königlichem Handeln.
Wer königlich handelt gleicht dem Himmel.
Der Himmel ist eins mit dem Tao.
Eins mit dem Tao sein bedeutet zeitlos sein.
Das Tao vergeht nicht, selbst wenn der Körper stirbt. ( 16)

°°°

Kannst du dein Herz und Geist sammeln,
dass sie das Eine umfangen ohne sich zu zerstreuen?
Kannst du deine Kraft einheitlich machen
und weich wie ein neugeborenes Kindlein sein?
Kannst du deine Sicht reinigen, so dass sie makellos ist?
Kannst du die Menschen lieben
und den Staat lenken ohne Eitelkeit?
Kannst du das Öffnen und Schliessen der Himmelspforten geduldig ertragen wie eine brütende Henne?
Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit alles durchdringen,
ohne des Handelns zu bedürfen?
Erzeugen ohne zu besitzen,
wirken ohne Anspruch auf Lohn,
lenken ohne zu beherrschen
das ist wahrhaftige Tugend (Te). (10)

°°°

Wer weiss, redet nicht. Wer redet, weiss nicht.
Schliesse deinen Mund
und wache über die Sinnespforten.
Mässige deinen Scharfsinn.
Entwirre deine Gedanken.
Verdecke dein Glänzen.
Verbinde dich mit dem Staub der Erde.
Dann bist du im Einklang mit dem Tao.
Wer dies vermag, den kann man nicht beeinflussen durch Liebe oder Kälte,
durch Nutzen oder Schaden,
durch Ehre oder Schande.
Dies ist der höchste Stand des Menschen. (56)

Wahrhaftige Lebensweisheit:

Wer andere kennt, ist klug.
Wer sich selbst kennt, ist weise.
Wer andere besiegt, hat Kraft.
Wer sich selbst besiegt, ist stark.
Wer sich durchsetzt, hat Willen.
Wer sich genügt, ist reich.
Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.
Wer auch im Tode nicht untergeht, der lebe. (33)

°°°

Wahre Worte sind nicht schön,
schöne Worte sind nicht wahr.
Der Verstehende überredet nicht,
der Überredende versteht nicht.
Der Weise ist nicht gelehrt,
der Gelehrte ist nicht weise.
Der Weise sammelt nicht,
je mehr er gibt, desto mehr hat er.
Das Tao des Himmels fördert, ohne zu schaden,
das Tao des Weisen ist Tun ohne Wollen. (81)



Literaturhinweise 

Zum Thema Taoismus gibt es eine fast unübersichtliche Menge an Literatur. Allein das Tao Te King wurde in zahlreiche Weltsprachen übertragen. Wie bei allen chinesischen Texten sind die Übertragungen recht unterschiedlich. Dies beruht zum grossen Teil auf der bildhaften Natur der chinesischen Ideogramme. deren Interpretation viel Spielraum lässt. Für die Artikel dieser Dhyäna habe ich aus der grossen Auswahl folgende Bücher benutzt:

°°°

Schreibweise der Eigennamen (sofern es sich nicht um Buchzitate handelt):

Lexikon der östlichen Weisheits/ehren, Scherz 1986

Taoismus allgemein:

Heinrich Dumoulin: Geschichte des ZenBuddhismus, Band 1. Francke 1985

Thomas Cleary: The Spirit of Tao, Shambala 1993

Lao tse: Tao te king; aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm; Eugen Diederichs Verlag, 1972 (erstmals erschienen 1910)

Lao Tse: Tao te King, eine neue Bearbeitung von Gia-Fu Feng & Jane Englisch. Hugendubel 1983

Lao Tse: Tao Te King; illustrierte Auswahl von M.L. Bergoint & K. Holitzka, Urania 1999

Alex Ignatius: Wasser ist stärker als Stein; die zeitlose Weisheit des Lao Tse, Windpferd 1991

Dschuang Dsi: Südliches Blütenland. aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm; Eugen Diederichs Verlag, 1972

Thomas Merton: The way of Chuang tzu, Shambala 1992

Liä Dsi: Quellender Urgrund, aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm; Eugen Diederichs Verlag. 1972 (erstmals erschienen 1910)

Thomas Cleary: Also sprach Laotse.

Da Liu: T’ai Chi Ch’uan and Meditation.

C.G. Jung & R. Wilhelm: Das Geheimnis der Go/denen Blüte, Walter Verlag 1971

Mokusen Miyuki (Hg.): Die Erfahrung der Go/denen Blüte. 0. W. Barth 2000

Dhammapada, the Sayings ofthe Buddha übertragen von Thomas Bryon.

Dhammapada, die Quintessenz der Buddha-Lehre. herausgegeben von Thomas Cleary, Fischer Taschenbuch 1997

Zenkei-Shibayama: Zu den Quellen des Zen. Wilhelm Heyne 1986

Die Kalligraphien Tao, Wu-Wei, und Chi hat die chinesische Künstlerin und Zen-Schülerin Li Ai Vee für diese Zeitschrift gemalt. Dafür sei ihr herzlich gedankt. Li Ai Vee ist Autorin des Buches: Bambus im Wind, Mein dreifacher Weg als Malerin. Rothenhäusler Verlag 1999.

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Die Lehre vom Tao
Die Lehre vom Tao